Eine Kritik der deutschen Erinnerungskultur

German Gedenken

Die Ritualisierung des Gedenkens an die der Shoah dient der »Heilung des Patienten«, nicht dem Gedenken an die Opfer. Ein Beweis dafür waren zuletzt die Reaktionen des politischen Establishments auf die Rede von Björn Höcke in Dresden.

Deutschland zahlt keine Entschädigungen. Egal ob es sich um die Forderungen Griechenlands handelt, die sich für die Wiedergutmachung von Kriegsschäden, für einen Besatzungskredit und für die Entschädigung von NS-Opfern auf 278 Milliarden Euro belaufen, oder ob es um den Völkermord an den Herero und Nama geht. Deutschland bekräftigt in allen Fällen, dass die Bundesrepublik keine indi­viduellen oder kollektiven Entschädigungszahlungen leisten werde (Jungle World 2/2017). Stattdessen bietet der deutsche Unterhändler Ruprecht Polenz (CDU) den Aufbau einer deutsch-namibischen Zukunftsstiftung an, die erinnerungspolitische Projekte sowie einen Jugendaustausch organisieren soll. Des Weiteren ist geplant, dass Joachim Gauck im März 2017 in Namibia eine offizielle Entschuldigung ausspricht. Auch die drei Maßnahmen, mit denen der Berliner Zoo (Jungle World 51/2015) auf die Forderung nach Entschädigung der ehemaligen jüdischen Zoo-Aktionäre reagierte, sehen kaum anders aus: eine Informations­tafel, eine Ausstellung und ein akademisches Programm. Wiederholt teilte die Senatsverwaltung für Finanzen auf Anfrage mit, »im Zentrum der Wiedergutmachung des Unrechts in der Zeit des Nationalsozialismus« stehe »heute nicht individuelle Restitution, sondern öffentliche Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit«. Statt einer Entschädigung geht es dem Berliner Senat und dem Berliner Zoo um die »Dauerpräsentation unserer Schande«, wie der Schriftsteller Martin Walser es 1998 in der Frankfurter Paulskirche bezeichnete. Walser, der in seiner Rede beklagt hatte, dass nicht das »Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Ins­trumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken«, hat ziemlich genau den Kern der heutigen Erinnerungskultur beschrieben. In einem Gespräch mit dem Spiegel im Mai 2015 distanzierte sich Walser plötzlich von der allgemein angenommenen Interpretation seiner Rede. Es sei »vielleicht leichtsinnig« von ihm gewesen, »von der Instrumentalisierung des Holocaust zu sprechen, ohne Namen zu nennen«. Er habe damals an Günter Grass, Joschka Fischer und Walter Jens gedacht. Irrtümlicherweise habe dann aber Ignatz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, geglaubt, er sei gemeint, so Walser. Beinahe zwei Jahrzehnte brauchte er, um diesen angeblichen Irrtum aufzuklären, was seine neuerliche Läuterung ziemlich unglaubwürdig erscheinen lässt. Aber ein Körnchen Wahrheit steckte trotzdem in seiner Rede. Walser hatte Recht, wenn er etwa dem damaligen Außenminister Joschka Fischer vorwarf, die deutsche Geschichte von 1933 bis 1945 zu instrumentalisieren. Der Eintritt Deutschlands in den Jugoslawienkrieg wurde damals mit einer ideologischen Meisterleistung ermöglicht. Der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete und Autor Freimut Duve überschrieb schon 1995 in der Zeit seinen berühmt-berüchtigten Artikel über die Gräueltaten der bosnisch-serbischen Freischärler mit dem Titel: »An der Rampe von Srebrenica«. Joschka Fischer sah in Srebrenica den serbischen Faschismus. Die Schröder-Fischer-Bande versuchte den Eindruck zu erwecken, dass ein erneuter Holocaust durch die bosnischen Serben bevorstehe. Dementsprechend sah sich die noch junge rot-grüne Koalition »gezwungen«, ­Serbien den Krieg zu erklären: Es galt, mit deutscher Beteiligung ein zweites Auschwitz zu verhindern.
Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz! Jahrestage, wie zuletzt der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, verursachen nicht nur bei aufgeklärten, kritischen Menschen ein äußerst mulmiges Gefühl. Die Ritua­lisierung des Gedenkens an die Shoah dient der »Heilung des Patienten«, nicht dem Gedenken an die Erniedrigten und Ermordeten. Am 27. Januar 2015, zum 70. Jahrestag der Befreiung durch die Alliierten, sagte Bundesprä­sident Joachim Gauck in seiner Rede: »Solange ich lebe, werde ich darunter leiden, dass die deutsche Nation mit ihrer so achtenswerten Kultur zu den ungeheuerlichsten Menschheitsverbrechen fähig war.«
Ihm geht es wie allen deutschen Offiziellen, Gauck will die deutsche Post-Holocaust-Identität stärken. Weil es beinahe nur noch einheimische Patienten sind, die über die historischen Rituale wachen, ist es kein Wunder, dass in den vergangenen Jahren daraus ein kollektiver Heilungsprozess wurde. Spätestens seit der Sozialdemokrat Gerhard Schröder das Land zur Friedensmacht erklärte und zwischen den beiden Polen Russland und USA einen dritten, den europäischen Block zu etablieren, brauchte das Land eine Ideo­logie, die dieses neue Projekt vermittelt. Nach innen wie auch nach außen. Als Vergangenheitsbewältigungsweltmeister konnte Deutschland endlich die ökonomische Überlegenheit in politisches Kapital ummünzen. Moralisierende Kritik an den USA bei gleichzeitiger Durchsetzung der eigenen ökonomischen Interessen mit ähnlichen, aber weit geringeren militärischen Mitteln, ist seitdem das mehrheitsfähige Projekt. National und international. Früher standen einer solchen provokanten ­Positionierung gegenüber der ehemaligen Schutzmacht USA wenigstens noch die klassischen konservativen Atlantiker gegenüber. Heute dagegen herrscht Einigkeit im gesamten politischen Spektrum.
Die Instrumentalisierung ist im 21. Jahrhundert der deutschen Gesellschaft ins Mark übergegangen. Deshalb reagierte auf die Dresdner Rede von Björn Höcke (AfD) die Berliner ­Republik in Person von Sigmar Gabriel (SPD) selbstredend entsetzt: »Wir Deutschen haben uns mit diesen unvorstellbaren Verbrechen auf eine Art und Weise auseinandergesetzt, die uns auch bei denen Respekt eingebracht hat, denen gegenüber Deutsche schuldig geworden sind.« Gabriel fährt in seinem Facebook-Statement fort und beweist, dass man in Deutschland immer den Teufel mit dem Belzebub austreiben will: »Björn Höcke unterstellt, der Umgang mit unserer Nazi-Vergangenheit mache uns klein. Das Gegenteil ist richtig: Dass wir uns unserer Geschichte gestellt, dass wir aus der Vergangenheit gelernt haben, war die Voraussetzung dafür, dass Deutschland weltweit respektiert wird. Björn Höcke verachtet das Deutschland, auf das ich stolz bin.« Die Geschichte als »abstraktes Symbol«, als »Anstecknadel und Gesinnungsbrosche« (Eike Geisel), die Deutschland wieder zu weltweitem ­Respekt verhilft, ist der Grund warum jede noch so kleine Gedenkveranstaltung ein wichtiges Teil im neuen deutschen Selbstbewusstsein darstellt.
»Nicht mehr die Leugnung des Unleugbaren, wie noch vor 40 Jahren, als wirkliche Täter (und ihre entsprechend parentifizierten Nachkommen) das ­öffentliche Klima bestimmten, macht das Verstockte aus«, wie Uli Krug es formuliert (Bahamas Nr. 71), sondern die noch vor 19 Jahren von Martin ­Walser beklagte »Dauerrepräsentation unserer Schande«. Schnell ist man hierzulande bereit, eine Gedenktafel irgendwo anzubringen, eine Straße umzubenennen, einen Stolperstein in die Erde zu rammen oder einen Stu­dienaustausch mit Israel in Gang zu setzen, aber die direkte Entschädigung stößt immer auf großen Widerspruch. Solange alles beim »kleinlaut und formell gewordenen Schuldgetue« bleibt, kostet die Erinnerung nichts weiter als pfäffisches Gewäsch an Gedenktagen, stellte Max Horkheimer schon 1959 fest.
Entschädigung zu zahlen, hindert dagegen die Deutschen bei ihrer internen Identitätsfindung beziehungs­weise -bestätigung. Konkrete Zahlungen an noch lebende Menschen bedeuten das Eingeständnis, dass die Schuld immer noch nicht abgegolten ist. Es impliziert, auch heute sollten sich die Deutschen lieber zurückhalten. Die Entschädigungsforderungen der Griechen werden nicht nur deshalb kollektiv ­abgelehnt, weil es sich um eine veritable Summe handelt, sondern weil dann der Status als nicht nur wirtschaftliche Führungsmacht in Europa wieder in Frage gestellt werden könnte.
Eine Ausstellung, eine Fernsehserie oder ein Heimatfilm, worin auch so manch guter Deutsche in der Masse der bösen Nazis vorkommt, ermöglicht ­dagegen »die Rückprojektion der eigenen Unschuld in die Familiengeschichte des Kollektivs« (Uli Krug). Die For­derung nach Entschädigung ist dagegen der größte Dolchstoß, den man Deutschland heutzutage verpassen kann, weil er die Ambition, als geläuterter Sünder auf der internationalen Bühne zu reüssieren, zumindest torpediert. Sie zerstört das Selbstverständnis als Vergangenheitsbewältigungsweltmeister. Sie deckt auf, dass die deutsche Volksgemeinschaft noch nicht einmal ansatzweise ihre »Schuldigkeit« getan hat. Es ist das Kryptonit des deutschen Supermanns. Es wird Deutschland nicht umbringen, nicht aufhalten, aber es lähmt dieses Monster zumindest.