Mit dem bevorstehenden Fall Aleppos an die Truppen des Regimes festigt Assad seine Position

Gezielt auf Zivilisten

Syriens Armee kontrolliert über die Hälfte des Ostteils von Aleppo. Überlebende Zivilisten werden vertrieben. Ein Sieg der Truppen Assads in der Stadt wird den Krieg jedoch nicht beenden.

»Für uns gibt es nur eine Regel: siegen oder sterben. Es gibt keine dritte Option.« Entschlossen blickt die 27jährige Rim in die Kamera. Ihr starkes Make-up und ihre akkurat gezupften Augenbrauen passen nicht so recht zu den martialischen Worten, ihrer syrischen Armeeuniform und den aufgestapelten Sandsäcken im Hintergrund. »Ich komme aus Aleppo und kämpfe für das syrische Volk«, sagt sie. Die Aufnahmen sollen Soldaten der syrischen Armee während der Kämpfe um die belagerte Stadt zeigen. Licht, Ton, Bildkomposition – alles ist überzeichnet, fast so, als würde hier eine Seifenoper statt einer Kriegsdokumentation gedreht. Ausgestrahlt wurden die Bilder Ende September von der Abkhazian Network News Agency, Bashar al-Assads größtem russischen Verbündeten im syrischen Propagandakrieg. Die Darstellung des Konflikts als Kampf von normalen Syrern, die aus Heimatliebe zu den Waffen griffen, um ihr Land ­gegen fremdfinanzierte, islamistische Horden zu verteidigen, passt perfekt zu den Behauptungen Assads. »Die Regierung verteidigt das Land gegen ­Terroristen, die als Stellvertreter anderer Länder einmarschiert sind«, sagte er Mitte Oktober in einem Interview mit dem Schweizer Radio und Fernsehen.
Auch wenn Assads Propaganda hierzulande vermehrt Anklang findet: Die Realität in und um Aleppo ist eine ­andere, als es das Wort Bürgerkrieg suggerieren mag. Den Regimetruppen, die in diesen Tagen die bis zuletzt von Rebellen gehaltenen Stadtviertel erobern, wird der Weg durch russische Flächenbombardements geebnet. Und die Fußsoldaten kommen nicht aus Homs, Damaskus oder Hama, sondern aus dem Irak, Afghanistan und dem ­Libanon. »In den vergangenen Wochen haben wir in Aleppo Perser und Libanesen aus den Trümmern gezogen und beerdigt«, sagte ein Unterstützer der »White Helmets« auf einer Veranstaltung Ende November in Berlin. Etwa 60 000 Ausländer sollen Informationen des Magazins Spiegel zufolge auf der Seite des Regimes kämpfen. Rekrutiert werden sie aus den schiitischen Bevölkerungsgruppen im Irak und in Afghanistan. Selbst Urdu soll an der Aleppiner Front gesprochen werden.
Koordiniert wird der Aufbau der ­Milizen vom Iran aus. Qasem Solei­mani, der Kommandeur der berüchtigten al-Quds-Einheit der iranischen ­Revolutionsgarden gehört zu den regelmäßigen Besuchern im Norden Syriens. Dort überwacht er auch den Aufstieg seines libanesischen Zöglings, der Hizbollah, zu einer Terrormiliz auf ­Steroiden.
Sollte Aleppo in den nächsten Wochen vollends an die Truppen des ­Assad-Regimes fallen, was naheliegt, ist dies kein Schritt zur Beendigung des syrischen Bürgerkriegs, sondern der Sieg einer brutalen Machtpolitik. Russland und der Iran könnten damit ihren Machtanspruch in der Levante dauerhaft festigen. Die Leidtragenden sind die knapp 200 000 Eingeschlos­senen in der ehemaligen Millionenmetropole. 70 000 Menschen sind in der Stadt auf der Flucht vor den vorrückenden Truppen Assads. Der kündigt auf Flugblättern an: »Geht oder ihr werdet vernichtet.« Im Netz kursieren Videos von Milizen, die sich auf Plünderungen einstimmen. Die Washington Post berichtet, dass die Regimetruppen Hunderte Männer zusammentreiben. Was mit ihnen passiert, ist unklar. Im Nachbarland Irak sind Tausende junge Männer einfach verschwunden, nachdem die irakische Armee und die Schiitenmiliz Hashd al-Sha’abi ihre Heimat­dörfer vom IS befreit hatten. In Aleppo kündigt sich ein ähnliches Szenario an. In der Stadt harren noch einige tausend, vorwiegend islamistische Rebellen aus. Sie haben sich zur Aleppo-Armee zusammengeschlossen.
Fällt mit Aleppo die letzte Millionenstadt an das Regime, prophezeit die russische Regierung ein Ende des syrischen Bürgerkriegs bis zum Jahres­ende. Mit ausländischer Unterstützung hofft Assad, seine Macht in einem Rumpfstaat konsolidieren zu können. Wie der aussehen könnte, lässt sich ­dieser Tage im 350 Kilometer südlich gelegenen Damaskus beobachten. Im Oktober lud der Diktator Dutzende westliche Journalisten in die von Kriegshandlungen weitgehend verschont ­gebliebene Hauptstadt ein, um sie über den vorgegaukelten Frieden berichten zu lassen. »Die Entbehrungen des Krieges sind hier genauso zu spüren wie anderswo«, schrieb Anne Barnard in der New York Times, obwohl zu ihrem Programm auch Besuche in den zahl­reichen Bars des Altstadtviertels Bab Tuma gehörten. Die Wirtschaft liegt am Boden, gebeutelt von Sanktionen und Inflation. Wer sich früher als Mitglied der Mittelklasse wähnte, lebt mittlerweile in Armut. Regelmäßig schlagen Mörsergranaten in der Stadt ein, Händler werden gezwungen, ihre Geschäfte offen zu halten – auch ohne Kundschaft.
Politisch und gesellschaftlich hat sich hier wenig geändert. Das öffent­liche Leben ist gelähmt von Assads ­Geheimdienst. Trotz anderweitiger Entbehrungen mangelt es nicht an Mitteln für die »Direktion für allgemeine Sicherheit«. Aufgebaut wurde der Geheimdienst in den siebziger und achtziger Jahren unter tatkräftiger Mithilfe der Stasi. Immer noch – auch mitten im Krieg – ist sein Regime von Willkür und Schrecken allgegenwärtig in Damaskus. Sam Heller von der US-amerikanischen Zeitschrift Foreign Policy ­beschreibt, wie bei eben jener Pressereise im Oktober Straßenhändler in ­Panik gerieten, sobald er sich als Journalist zu erkennen gab und anfing, ­Fragen zu stellen: »Die alten Schranken für die freie Rede sind noch voll intakt. Sicherheitsstaatparanoia.«
Assad hat in den fünfeinhalb Jahren Bürgerkrieg deutlich gemacht, dass sich mit ihm an der Führung des Staats nichts ändern wird. Aufgrund dieser Sturheit war es für viele Beobachter nur eine Frage der Zeit, bis er durch einen Kandidaten ersetzt würde, der auf die oppositionellen Gruppen hätte zugehen können. Zumal der Konflikt in Syrien lange militärisch nicht lösbar schien. Doch Assad hat mit dem Iran und Russland zwei Gönner gewonnen, ­denen es egal ist, welche Politik er im Inneren verfolgt. Wie ein alter, trockener Kaugummi unter der Schulbank klebt er in seinem Präsidentenpalast. An seiner Entfernung will sich offenbar niemand mehr die Finger schmutzig machen. An seiner Seite bleiben alte Gefährten. Die Beraterin Bouthaina Shaaban, die den Krieg in Syrien als westliche Kolonialisierung versteht, und der Außenminister Walid al-Muallem, der noch Ende Oktober behauptete, in Aleppo würden keine Zivilisten sterben. Der Macht­zirkel um Assad harrt nicht nur aus, er restauriert seine Macht. Es ist auch die Folge einer amerikanischen Politik, die regime change aus ihrem Vokabular ­gestrichen hat.
Doch Syrien ist nicht Nordkorea und Assads Diktat ist weit davon entfernt, in jedem Winkel der Levante Gehör zu finden. Im ganzen Land kämpft eine Vielzahl von Armeen und Milizen in erbitterten Schlachten – mit maßgeblicher internationaler Beteiligung. Im Osten marschieren die Demokratischen Kräfte Syriens – ein Zusammenschluss kurdischer, assyrischer, turkmenischer und sunnitischer Milizen –, unterstützt von der amerikanischen und franzö­sischen Luftwaffe in Richtung Raqqa. Dort hat sich der »Islamische Staat« (IS) eingegraben, verstärkt von Kämpfern, die aus dem belagerten Mossul den Weg nach Syrien fanden. Die Bürgerjournalisten von Raqqa is Being Slaughtered Silently berichten von Übergriffen auf die Zivilbevölkerung durch die Kurdenmiliz YPG. Hunderte Zivilisten fliehen vor den Kämpfen in den Dörfern nördlich von Raqqa.
Im Norden begann die türkische Armee im August eine Militäroffensive unter dem Namen »Schutzschild Euphrat«. Gemeinsam mit der Freien Syrischen Armee (FSA) und den Islamisten von Ahrar al-Sham soll ein einheitliches Kurdengebiet im Norden Syriens unter Führung der Demokratischen Kräfte Syriens verhindert werden. Dort kämpfen Nato-Stellvertreter gegen ­Nato-Stellvertreter. Ende November sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, das Ziel der Intervention sei, »die Herrschaft des Tyrannen Assad zu beenden«. Um den ehemaligen al-Qaida-Ableger al-Nusra-Front, der mittlerweile unter dem Namen Fatah al-Sham firmiert, versammeln sich ehemalige FSA-Kämpfer aus dem belagerten Aleppo. Denn die Tage westlicher Unterstützung für die FSA scheinen gezählt. Mittelfristig sind die Islamisten, die von Golfstaaten finanziert werden, ein ­erfolgversprechender Arbeitgeber.
Im Süden bombardierte die israelische Luftwaffe am 30. November einen Militärkonvoi der Hizbollah auf dem Weg in den Libanon. Die Angst der Israelis vor einer kampferprobten und hochgerüsteten Hizbollah, die sich nach dem Fall Aleppos wieder der libane­sischen Südgrenze widmen könnte, ist nicht unbegründet.
Und in Damaskus kann es Assad kaum erwarten, mit den Truppen aus Aleppo seine Macht in Rumpfsyrien zu konsolidieren. Es gilt, das Land für die Zukunft zu rüsten. Seit 46 Jahren regiert die Familie. Am 3. Dezember wurde ­Assads Sohn Hafiz al-Assad Junior 15 Jahre alt.