Waffenhandel im Nordirak

Die AK-47 im Wohnzimmerschrank

Im kurdischen Nordirak floriert der Waffenhandel. Kurdische Peshmerga haben sich für den Kampf gegen den »Islamischen Staat« ausgerüstet und wollen die kurdische Autonomie auch in Zukunft verteidigen. Die allgemeine Bewaffnung führt aber häufig auch zur Eskalation alltäglicher Konflikte.

Mit großen Augen mustern die Männer die Ware an der Wand. Der kleine Laden nahe der Haji-Sherko-Moschee ist gut besucht für diese Zeit, die meisten anderen Geschäfte haben längst geschlossen. Es ist Freitagmittag in Çemçemal, doch die Rufe des Muezzins zum Gebet verhallen im Getuschel der Käufer. Schon von außen deutet sich an, welche Geschäfte hier abgewickelt werden. In den Schaufenstern liegen Springmesser und ein paar Revolver. Drinnen gibt es das gute Zeug: Kalaschnikows, M4-Karabiner, belgische FNC. Die Kriegswaffen sind liebevoll um die symmetrisch aufgereihten Metallhaken an den Wänden drapiert.
»Die große Schwarze ist die beliebteste bei meinen Kunden«, sagt Azad* und zeigt auf ein Sturmgewehr, das unter dem Deckenfernseher hängt: eine M16, US-amerikanisches Fabrikat. »Die schafft 750 Schuss pro Minute«, erklärt der Händler, »und kostet nur 4 000 Dollar.« Für den kleinen Geldbeutel könne er einen Klassiker empfehlen: eine chinesische AK-47 für 200 US-Dollar.
Die Kleinstadt Çemçemal liegt im Nordirak, ungefähr 40 Kilometer östlich der Ölmetropole Kirkuk. Es gibt wohl wenige Orte auf der Welt, an denen es einfacher ist, legal an eine Kriegswaffe zu kommen. Die Schusswaffen stapeln sich in den Regalen der Waffenmärkte, als wären es Teppichklopfer. Fünf weitere Läden befinden sich allein in unmittelbarer Nachbarschaft zu Azads Geschäft, nur wenige Minuten zu Fuß entfernt. Ihm sei der Waffenhandel schon in die Wiege gelegt worden, sagt Azad. Sein Vater sei Schmuggler gewesen, die Waffen habe er aus dem Iran oder aus Libyen beschafft. Nun führe er das Geschäft weiter, »aber 100 Prozent legal«, wie er versichert. Studiert habe er, aber sein Studium abgebrochen, als er gesehen habe, wie leicht man mit Waffen Geld verdienen kann, so Azad. Die meisten anderen Händler seien hingegen Peshmerga, die sich neben dem Dienst an der Waffe etwas dazuverdienen wollten.
Die kurdischen Kämpfer seien eigentlich auch seine besten Kunden, sagt Azad. Bevor der »Islamische Staat« (IS) sich im Nordirak breitmachte, bekamen nur etwa zwei Prozent der Peshmerga ihre Waffen vom irakischen Staat oder von der kurdischen Regionalregierung (KRG). Der Rest musste sich selbst ein Gewehr oder eine Pistole beschaffen, wollte man nicht mit Axt und Mistgabel in den Kampf ziehen. »Häufig gaben die Peshmerga ihr Gewehr bei mir in Zahlung, wenn sie Geld brauchten«, sagt Azad. Wenn sie es wieder zurückkaufen wollten, habe er entweder dasselbe noch im Regal aufbewahrt oder ihnen ein anderes verkauft. Doch mit den Waffengeschenken aus Deutschland sei dieser Geschäftszweig zusammengebrochen.
»Früher habe ich vier bis fünf Kalaschnikows täglich verkauft«, sagt Kamir, ein anderer Händler in Çemçemal. »Heute ist es maximal eine.« Ob er sich wünsche, dass die Deutschen die Lieferungen aussetzten? »Nein, auf keinen Fall«, winkt Kamir, selbst Peshmerga, ab und gibt mit nach oben zeigenden Daumen zu verstehen, was er von dem großzügigen Freund aus Europa hält.
Der Versuch einiger Peshmerga, die Bundeswehrwaffen unter der Hand zu verkaufen, scheiterte. Als Anfang 2015 ein G36-Gewehr auf einem Waffenmarkt in Erbil auftauchte und Kamerateams von al-Jazeera und der ARD dies mitbekamen, war das Geschrei groß: Die KRG und die Führung der Peshmerga beteuerten dem deutschen Partner gegenüber, davon nichts gewusst zu haben und die Verantwortlichen zu bestrafen. Die deutsche Regierung setzte dennoch ihre Lieferungen für eine Weile aus. Viele Händler, vor allem in Suleymaniah und Erbil, scheinen seitdem gut vorbereitet zu sein auf die Fragen ausländischer Journalisten. Deutsche Waffen? Fehlanzeige. Da sei man sehr streng. Sowieso seien in jedem Laden Überwachungskameras der Behörden installiert.
Zu Hause in Texas
Doch in Çemçemal gibt es keine Kameras in den Geschäften und auch kein Misstrauen angesichts neugieriger Fragen. Der Ort ist berüchtigt für seinen freizügigen Umgang mit Waffen und wird auch das »Texas Kurdistans« genannt – open carry, das offene Tragen von Waffen, ist hier üblich. »Läufst du jemandem aus Çemçemal über den Weg, der dich mit ›Fuck you‹ begrüßt, antwortest du mit ›Thank you‹«, lautet ein gern erzählter Witz. Die allgemeine Verfügbarkeit von Kriegsgerät ist zu einem ausgewachsenen Problem geworden. Die Kleinstadt ist regelmäßig Schauplatz blutiger Fehden und brutaler Verbrechen, die mit Schusswaffen begangen werden. 2014 wurden auf der Strecke zwischen Çemçemal und Kirkuk, einer Fahrt von rund einer halben Stunde, elf Taxifahrer tot aufgefunden, die zuvor als vermisst gemeldet worden waren. Ihre Leichen waren von Kugeln durchsiebt. Einige Jahre zuvor wurde eine ganze Peshmerga-Einheit mit über 100 Kämpfern hierher beordert, als eine Serie unaufgeklärter Morde und Vergewaltigungen die Stadt heimsuchte. Die Bewohner alarmierten die Behörden, es herrsche eine Atmosphäre der Gesetzlosigkeit in der Stadt. »Wenn du versehentlich jemanden anrempelst, kannst du dich so oft entschuldigen, wie du willst. So was kann in einem Blutbad enden«, gab ein 18jähriger Student damals einer Lokalzeitung zu Protokoll.
Doch das Waffenproblem lässt sich nicht auf einen schießwütigen Ort im kurdischen Hinterland reduzieren. Auch in anderen Gebieten der autonomen Region floriert das Geschäft mit dem handlichen Kriegsgerät. Zwar gibt es keine verlässlichen Zahlen über den privaten Waffenbesitz, auch nicht seitens der KRG, die Kauf und Verkauf von Kleinwaffen eigentlich reglementieren soll. Doch nach Schätzungen des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) kommt mittlerweile auf drei Einwohner im Nordirak eine Feuerwaffe – im Schnitt eine pro Haushalt.
Noch bevor Deutschland, Frankreich und die USA ab 2014 Gewehre, Granaten und Raketen in die Region lieferten, um die Peshmerga im Kampf gegen den IS zu unterstützen, hatte der Waffenüberfluss die kurdische Politik auf den Plan gerufen. Doch eine Gesetzesinitiative zum staatlichen Rückkauf privater Waffen scheiterte. »Ich befürchte, ein solcher Plan befeuert nur den Waffenschmuggel«, begründete das im Juli 2013 der Parlamentarier Nariman Abdulla im kurdischen Fernsehen. »Von dem Geld, das die Regierung in die Hand nimmt, kaufen sich die Kurden am Ende doch nur eine neue Waffe«, so der Politiker.
Die KRG dürfte aber auch nicht einmal ansatzweise über das nötige Budget verfügen, um die Menge privat gehorteter Waffen aufzukaufen. Gerade zurzeit, da eine Wirtschaftskrise die öffentlichen Haushalte schwer belastet und tausende Staatsdiener monatelang auf ihren Lohn warten, scheint ein Eingreifen der Politik ferner denn je. Auch käme ein solcher Schritt reichlich spät. Denn das Waffenarsenal der kurdischen Bevölkerung wurde schon vor über 20 Jahren angelegt und seitdem sukzessive aufgestockt. Als im April 1991 die USA die irakische Besatzung Kuwaits beendet und dem Regime Saddam Husseins eine Niederlage beschert hatten, brach in der irakischen Armee Chaos aus. Zehntausende Soldaten, die in den Kurdengebieten stationiert waren, machten sich panisch auf den Rückweg zu ihren Familien im Süden, oftmals zu Fuß. Die schweren Stiefel der irakischen Armee waren vielen Soldaten zu unbequem für den langen Marsch nach Hause. Sie ließen sie einfach zurück – und mit ihnen den Rest ihrer Ausrüstung. »Die Waffen, darunter Sturmgewehre, Pistolen, Panzerfäuste, sogar gepanzerte Fahrzeuge, sind damals einfach verschwunden, noch bevor die Peshmerga die Militärstützpunkte einnahmen«, erinnert sich Mahmoud*, der mittlerweile für eine internationale Organisation arbeitet und das Kriegsende damals in Suleymaniah miterlebte. »In wenigen Tagen hatte so jeder Haushalt in Kurdistan mindestens eine AK-47 im Wohnzimmerschrank hängen.«
Mit der US-Invasion im Irak 2003 kam die nächste Welle an Kriegswaffen. Über 950 000 Kleinwaffen im Wert von 500 Millionen US-Dollar lieferte das Pentagon einer Studie der britischen Hilfsorganisation Action on Armed Violence zufolge bis 2014 an den Irak – genug, um jeden Peshmerga und jeden Armeeangehörigen des Landes mit mindestens zwei Gewehren auszustatten. »Hunderttausende dieser Waffen sind verschwunden. Bis heute gibt es keinen Nachweis über ihren Verbleib«, schrieb Amnesty International später in einem Bericht. »Die Amerikaner lieferten Waffen in das Land, ohne für die notwendigen Kontrollinstrumente zu sorgen. Es gab nicht einmal ein Aufsichtskomitee.«
Mit dem Vormarsch des IS auf den irakischen Norden 2014 fluteten erneut tausende US-amerikanische M16-Sturmgewehre die Waffenmärkte in Erbil, Suleymaniah und Çemçemal, zurückgelassen von der hochgerüsteten irakischen Armee, die ihre Außenposten in Städten wie Kirkuk und Jalawla aufgeben musste. Die Peshmerga übernahmen die Kontrolle über diese Städte. Sie hätten riesige Depots US-amerikanischer Sturmgewehre gefunden, erzählt Sherzat, ein Peshmerga-Hauptmann. Noch bevor die Kisten aus Deutschland ankamen, war Kurdistan bereits ein Eldorado für Kleinwaffen.
Schusssichere Freiheit
Mittlerweile ist auch die kurdische Polizei alarmiert, die das Treiben lange toleriert und bisweilen unterstützt hat. Bereits 2013 beklagte sich der damalige Polizeisprecher von Suleymaniah, Sarkawt Ahmad, über zu lasch angewendete Waffengesetze. »Jährlich kommen Dutzende Menschen durch den Einsatz von Schusswaffen ums Leben. Die Anlässe sind meist nichtig: Stammesdispute, Eigentumskonflikte, Ehrenmorde«, mahnte Ahmad im kurdischen Fernsehen. »Ein Großteil dieser Kriminalfälle entsteht erst durch den leichten Zugang zu Schusswaffen.«
In der kurdischen Bevölkerung finden solche Mahnungen der Behörden jedoch kaum Gehör. Eine Waffe zu besitzen, ist für viele Kurden ein Geburtsrecht, ein Symbol der eigenen Wehrhaftigkeit in einer feindlichen Umgebung. Sie ist eine Garantie für Freiheit. Das Argument ist für Kurden weit weniger abstrakt als für Waffennarren in den USA. Die Erinnerungen an die Verbrechen der irakischen Zentralregierung sind noch frisch. Saddam Husseins Schergen wüteten in den achtziger und neunziger Jahren in den kurdischen Gebieten und schienen dabei keine Grausamkeit auszulassen. Massenverhaftungen, Erschießungen, Sarin- und Senfgas – Zehntausende Kurden fielen den Massakern zum Opfer. Da sich die Peshmerga in die Berge zurückgezogen hatten, standen sie Saddams Schlächtern oft wehrlos gegenüber. Auch Çem­çemal blieb nicht verschont. Am Stadtrand erinnert ein Friedhof an die Tausenden Einwohner, die durch Saddams Bomben umkamen.
Erst vor wenigen Tagen erhielt die kurdische Waffenlobby ein weiteres schlagkräftiges Argument. Inmitten der Mossul-Offensive begann ein IS-Kommando von 100 Kämpfern einen Ablenkungsangriff auf Kirkuk. Viele Polizisten und Peshmerga befanden sich zu diesem Zeitpunkt an der Front, etwa 150 Kilometer nordwestlich der Stadt. Die Islamisten erzielten rasche Erfolge, töteten mehrere Sicherheitskräfte in einem Kraftwerk und hissten die schwarze Fahne auf einem Hotel im Stadtzentrum. Doch der Spuk fand ein jähes Ende, als Dutzende Zivilisten mit Sturmgewehren das Feuer auf die Angreifer eröffneten. Live-Aufnahmen des lokalen Fernsehsenders Kurdistan 24 zeigten Männer mittleren Alters in kurzärmligen Hemden mit Kalaschnikows im Anschlag. Seite an Seite kämpften sie mit den verbliebenen Peshmerga und vertrieben den IS innerhalb kurzer Zeit aus der Stadt. Der Vorstoß der Islamisten konnte beendet werden.
Solange derlei Bedrohungen, damals durch die irakische Armee, heutzutage durch den IS und schiitische Milizen, für die Kurden schmerzhaft real sind, wird sich an der Waffenschwemme im Nordirak nur wenig ändern. Trotz der ansteigenden Gewaltkriminalität haben die Befürworter westlicher Waffenlieferungen zumindest politisch die besseren Argumente. »Wir brauchen mehr deutsche Waffen«, sagte Massoud Barzani, der Präsident der kurdischen Autonomieregion, kürzlich in einem Interview mit Bild. Dem Panzerabwehrsystem Milan gehe im Kampf gegen die Selbstmordattentäter des IS langsam die Munition aus, berichtete die Zeitung unter Berufung auf Offiziere an der Front.
Ob das stimmt, ist fraglich. Aus Kreisen der Peshmerga heißt es, dass sich kistenweise Munition in ihren Kasernen rund um Erbil stapelten. Überprüfen lassen sich solche Gerüchte nicht, aber sie klingen einigermaßen plausibel. Denn für Barzani gibt es nur ein Ziel. »Sobald Mossul befreit ist, werden wir uns mit den Partnern in Bagdad zusammensetzen und über unsere Unabhängigkeit sprechen«, sagte er Mitte Oktober zu deutschen Medien. Dass die Regierung in Bagdad die Kurden kampflos ziehen lassen wird, ist zu bezweifeln. Doch die Kurden sind bereit zu kämpfen. Die nötigen Waffen haben sie.
Mit einem lauten Rattern zieht Azad die Rollläden vor seinem Lasen nach unten. Zeit für das Freitagsgebet. Doch bevor er das rostige Vorhängeschloss durch die Metallösen fädelt, will er seinen deutschen Besuchern noch etwas Besonderes zeigen. Er öffnet eine kleine Holzschachtel. Darin liegt, fein geölt, eine Pistole mit schlankem Mündungslauf: eine Walther P1. Mit Bundeswehrprägung.
* Namen von der Redaktion geändert.