Die Künstlerin Eva Hesse

Umgang mit der ererbten Vergangenheit

Flucht aus Deutschland, das jüdische Leben im New York der Vierziger, wieder Deutschland, nun in den Sechzigern – in Eva Hesses Kunst spiegelt sich das Elend der Welt nach Auschwitz.

Nichts in meinem Leben ist normal, nichts, nicht mal meine Kunst. Die ist noch das Einfachste in meinem Leben«, reflektierte die Künstlerin Eva Hesse in ihrem letzten Interview, das in der Mai-Ausgabe 1970 in Artforum erschien. Auf dem Cover des bedeutenden US-amerikanischen Kunstmagazins war Hesses Arbeit »Contingent« zu sehen, acht von der Decke hängende Leinenbahnen, die von ihr mit Latex und Fiberglass bearbeitet worden waren. »Ich habe als Künstlerin keine Angst. Ich scheue keine Risiken. Ich ertrage keine sentimentalen Geschichten, keine netten Bilder, keine hübschen Skulpturen, keine Dekorationen an den Wänden. Das alles macht mich krank … «
Die wenigen Jahre, die Eva Hesse bis zu ihrem Krebstod im ­Alter von nur 34 Jahren am 29. Mai 1970 blieben, hat sie an einer künstlerischen Form gearbeitet, die alles Dekorative hinter sich lässt, die abstrakt ist und doch persönlich, minimalistisch und doch überfordernd, und dabei vor allem eines bleibt: absurd. »Absurdität ist das Schlüsselwort … Es hat mit Widersprüchen und Gegensätzen zu tun«, so Hesse in einem Gespräch. Eine abgründige und ernsthafte Absurdität, die beeinflusst war von Samuel Becketts Theater und der seriellen Wiederholung des Minimalismus. Hesse hat Objekte hinterlassen, die in ihrer Form nicht nur die Kunstströmungen ihrer Zeit und ihr eigenes Leben reflektiert haben. Es spiegelten sich auch die eng mit ihrem Leben verknüpften Katastrophen des 20. Jahrhunderts, angesichts derer sich die Idee einer dekorativen Kunst, von Kitsch und netten Bildern erledigt hatte.
»Contingent« war eine der wenigen Arbeiten, die Hesse nach ihrer Krebsdiagnose noch fertigstellen konnte. Die Künstlerin befand sich auf dem Höhepunkt ihres Erfolges, als sie bei der Arbeit an »Contingent« im April 1969 kollabierte und unmittelbar darauf sich der ersten ihrer zahlreichen Operationen an einem Hirntumor unterziehen musste. Im November 1968 hatte sie in der Fischbach Gallery in New York ihre erste Einzelausstellung präsentiert, die von den meisten Kunstkritikern sehr positiv aufgenommen worden war. Mit den in der Ausstellung »Chain Polymers« gezeigten Arbeiten hatte sie endgültig jene Form gefunden, auf die sie in den etwa zehn Jahren ihres Lebens als freie Künstlerin hingearbeitet hatte. Acht große Plastiken und Installationen wurden gezeigt sowie verwandte kleinere Arbeiten und Zeichnungen, gefertigt aus Latex, Fiberglass, Polyesterharz und Polyäthylen – daher auch der Ausstellungstitel. Hauptsächlich künstliches Material, das dennoch Vergänglichkeit in sich trug: Glasfaser, Polyester aber auch Trägermaterialien wie Baumwollbettlaken sind schwer zu konservieren und zersetzen sich mit der Zeit. Ein durchaus von der Künstlerin einkalkulierter Effekt. Wie Künstlichkeit mit Vergänglichkeit konfrontiert wurde, so traf der Zufall im Umgang mit den neuen Materialien auf die Planmäßigkeit der gewünschten Effekte für die Werke.
Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern dieser Zeit, die mit den neuen Möglichkeiten des Materials Kunststoff in all seinen Ausformungen experimentierten und dabei vor allem an der Gleichförmigkeit und Künstlichkeit von Plastik interessiert waren, stellte Hesse das Unfertige des Materials in den Vordergrund. Sie suchte nach unerwarteten Reaktionen und Verhaltensweisen im künstlerischen Umgang mit dem Material. »Mein wichtigstes Anliegen ist es, über das hinauszugehen, was ich weiß und was ich wissen kann. Formale Prinzipien kann man verstehen und sie werden auch verstanden. Das, wovon ich ausgehen und wohin ich kommen möchte, ist das Moment des Unbekannten. Als Ding, als Objekt wird es dadurch zu einem unbewussten Selbst. Es ist Etwas, es ist Nichts«, schrieb Hesse in einem Text über »Chain Polymers«.
Die Auseinandersetzung mit dem Zufall, die Suche nach der Überwindung des Bekannten, und die Reflexion über die damit verbundenen Prozesse und Materialien haben das künstlerische Werk von Eva Hesse geprägt. Gleichzeitig war es auch die Suche nach einer Form, die eigene Biographie in der Kunst zu spiegeln – ihre Freundin Nancy Holt erinnerte sich etwa an die Bedeutung, die Eva Hesse ihrer Kindheit beimaß, vor allem den in dieser Kindheit liegenden Lücken in der eigenen Biographie, denen sie mit der physischen Präsenz des Materials eine Realität zu geben versucht habe. In dieser engen Verknüpfung der Materialität der Kunst mit dem eigenen Leben liegt wohl auch der Grund dafür, warum viele Kritiker in die Falle getappt sind, Künstlerin und Kunst vollständig gleichzusetzen, und, statt die Reflexionen der Künstlerin über das eigene Werk ernst zu nehmen, Erwartungen auf sie zu projizieren: als Frau in der männerdominierten Kunstwelt der Sechziger, als Jüdin, Flüchtling, Halbwaise. Immer wieder wurden aus Hesses Kunst – dem Fragilen und Vergänglichen, das dieser anhaftet – Rückschlüsse auf biographische Traumata und Verlustängste gezogen. Statt in Hesses Kunst auch eine Auseinandersetzung mit solchen biographischen Realitäten zu sehen, wurde aus ihr vielmehr der hilflose Ausdruck einer jungen Frau herausgelesen, die ihren psychischen Problemen und der Geschichte des 20. Jahrhunderts ausgeliefert war – ein Schicksal, das sie mit vielen Künstlerinnen teilt.
Auch der Dokumentarfilm »Eva Hesse« von Marcie Begleiter, der im April in Deutschland angelaufen ist, nähert sich der Künstlerin glücklicherweise über die künstlerische Form und den biographischen Hintergrund gleichermaßen. In Gesprächen mit künstlerischen Wegbegleitern wie Sol LeWitt oder Dan Graham und ihrer Schwester Helen Hesse Charash umkreist Begleiter, die wie Hesse einen deutsch-jüdischen Familienhintergrund hat, das überschaubare und doch so prägende künstlerische Werk und die Biographie der 1936 in Hamburg geborenen Künstlerin.
Die ersten zehn Jahre von Eva Hesses Leben sind gut dokumentiert: Ihr Vater Wilhelm Hesse führte vom Tag ihrer Geburt am 11. Januar 1936 bis zu Rosh Hashanah, dem jüdischen Neujahrsfest, im Jahr 1946, Tagebuch über Evas Leben, ebenso wie über das der zweieinhalb Jahre ältere Schwester Helen. Fotos, Zeitungsausschnitte, Postkarten und Texte bilden zusammen die dichte Beschreibung einer jüdischen Hamburger Familie, deren Leben im Laufe dieser zehn Jahre in Trümmer fiel und wogegen Wilhelm mit den Tagebüchern ein wenig Ordnung zu schaffen hoffte. »Mir hat mein Arzt mal gesagt, dass er eine so unglaubliche Biographie wie die meine noch nie gehört hat. Haben Sie Taschentücher dabei?« fragte Hesse im Artforum-Interview ihre Gesprächspartnerin Cindy Nemser. Und in der Tat war die Biographie der Künstlerin schon in jungen Jahren geprägt von immer neuen kleinen und großen Tragödien, Tod und Vergänglichkeit waren schon früh Teile ihres Lebens, Verlust und Trauer prägten ihre Kindheit. Im Interview fasste sie zusammen: »Ich gewöhnte mich daran, Angst zu haben. Mein Leben lang. Mich kann man leicht glücklich und leicht traurig machen, weil ich schon so viel durchgestanden habe.«
Bereits vor Eva Hesses Geburt erhielt der Hamburger Rechtsanwalt Wilhelm Hesse im April 1933 durch die Nationalsozialisten Arbeitsverbot und engagierte sich danach ehrenamtlich in der Hamburger jüdischen Gemeinde. Seine Frau Ruth Marcus Hesse litt unter Depressionen, die sich verstärkten, je größer die antisemitischen Repressionen wurden. 1938, kurze Zeit nach der Pogromnacht, wurden die beiden Schwestern Eva und Helene mit einem Kindertransport in die Niederlande gebracht, ihr Onkel Nathan lebte in Den Haag. Eva Hesse beschreibt im Interview mit Nemser den Kindertransport: »Wir fuhren nach Holland. Man steckte uns in ein katholisches Kinderheim, ich war immer krank. Meine Eltern kamen dann irgendwann auch nach Amsterdam, und irgendwie schafften sie es, uns alle nach England zu bringen. Der Bruder meines Vaters und dessen Frau endeten im Konzentrationslager. Niemand in meiner Familie, außer uns, hat es geschafft. Nur wir.«
Von New York aus versuchten die Hesses, Ruths Eltern und andere Verwandte nachzuholen, doch es gelang ihnen nicht. »Sei dankbar, dass du gerettet wurdest. Vergiss nicht, dass dein Leben in Gefahr war«, notiert Wilhelm Hesse im Tagebuch. Erst nach dem Krieg erfuhren die Hesses vom Schicksal ihrer in Europa zurückgebliebenen Familie, und kurz nach der endgültigen Nachricht vom Tod ihrer Eltern im KZ beging Ruth Hesse, drei Tage vor Eva Hesses elften Geburtstag, im Januar 1946 Selbstmord.
Früh entschied sich Eva Hesse, Künstlerin werden zu wollen, studierte Malerei in New York und an der Yale School of Art. 1961 heiratete sie den Bildhauer Tom Doyle, der für sie zum Judentum konvertierte, und setzte sich immer stärker mit dreidimensionalen Kunstwerken auseinander. Dabei blieb sie stets im Schatten ihres Mannes, der in den frühen Sechzigern gerade Karriere machte. So war sie auch das weibliche Anhängsel, als Doyle im Dezember 1963 das Angebot bekam, auf Kosten des Industriellen- und Sammlerehepaares Isabel und Friedrich Arnhard Scheidt aus Kettwig an der Ruhr in einer stillgelegten Fabrik ohne ökonomische Zwänge an Skulpturen arbeiten zu können – eine »ungewöhnliche Form der renaissanceähnlichen Förderung«, wie sie in ihrem Tagebuch notierte. Im Juni 1964 kamen die beiden Künstler in Deutschland an, Eva Hesse mit einer Liste von Adressen und Namen der Familiengeschichte im Koffer. Im Dokumentarfilm wird beschrieben, wie sehr sich Hesse vor der Reise damit auseinandergesetzt hat, an den Ort der Vernichtung ihrer Familie zurückzukehren und wie stark die innere Abneigung war, dieses Land wieder zu betreten. In dem Jahr ihres Aufenthalts besuchte sie die Herkunftsstädte ihrer Familie, suchte in Hameln und Hamburg nach Spuren, sprach mit Nachbarn und früheren Freunden der Eltern, bekam in Hamburg den Zutritt zu der früheren Wohnung der Hesses verweigert und beschäftigte sich gleichzeitig intensiv mit der europäischen Kunst. In diese Zeit fällt auch die Entwicklung Hesses von einer Malerin zur Bildhauerin, beziehungsweise Künstlerin, die bei Form und Material neue Wege geht.
In Deutschland begann Hesse auch, sich mit ihrer Rolle als Frau im Kunstbetrieb zu beschäftigen – und nach der Rückkehr nach New York trat sie aus dem Schatten ihres Mannes heraus, nebst Scheidung. Sie widmete sich den feministischen Theorien der Sechziger und eben jenem »Schlüssel« zu ihrem Werk: Beckett. Die sinnentleerte Wiederholung, die dessen Dramen neben dem Humor auszeichnet, in denen sich das Elend der Welt nach Auschwitz spiegelt, übertrug Hesse in die Kunst. Über Becketts »Warten auf Godot« hat sie gesagt: »Es ist wirklich ein Schlüssel – der Schlüssel – um mich zu verstehen. Nur wenige verstehen und sehen, dass mein Humor daher kommt, ja mein künstlerischer Ansatz.«
So zeigt sich auch in Hesses Arbeiten nach ihrem Aufenthalt in Deutschland jenes im Prinzip der Wiederholung angelegte Deuten auf die Abgründe, die sich jenseits der Kunst im 20. Jahrhundert aufgetan haben: den Zivilisationsbruch, mit dem umzugehen die Kunst herausgefordert ist – »meine ererbte Vergangenheit Deutschland« hat sie dieses Verhältnis genannt.
Hesses Kunst ist eine Reflexion ihrer jüdischen Identität und des Nationalsozialismus, nicht lediglich ein traumatisches Ergebnis der Verfolgungserfahrung. So sind Biographie und künstlerischer Ausdruck bei Hesse zwar tatsächlich eng verknüpft, jedoch auf eine subtilere und reflektiertere Weise, als dies lange Zeit wahrgenommen wurde. In Eva Hesses Kunst spiegeln sich die von ihr angeführten Widersprüche und Gegensätze, innere Kämpfe und unabgeschlossene Geschichte; die Vergänglichkeit ihrer künstlerischen Materialien tritt in eine Auseinandersetzung mit ihrem Willen, als Künstlerin eine Spur zu hinterlassen, nicht vergessen zu werden und doch gleichzeitig mit der Möglichkeit, spurlos zu verschwinden, umgehen zu müssen. In einem Interview hat sie einmal gesagt: »Life doesn’t last; art doesn’t last. It doesn’t matter.«
Eva Hesse (D/USA 2016). Regie: Marcie ­Begleiter