Eine sehr deutsche Geschichte. Ein Arzt der chilenischen »Colonia Dignidad« soll in Deutschland vor Gericht

Schuhplatteln über dem Folterkeller

Hartmut Hopp war die rechte Hand des Sektenführers Paul Schäfer in der chilenischen Colonia Dignidad. Seit fünf Jahren lebt er unbehelligt in Krefeld. Opfer der totalitären Sekte wollen den Mediziner nun auch in Deutschland vor Gericht bringen.

Chilenische Richter haben ihn verurteilt, Interpol hat einen Haftbefehl auf ihn ausgestellt, und wenn es nach dem Willen vieler seiner Opfer ginge, säße er auch in Deutschland längst in Haft. Doch Hartmut Hopp lebt unbehelligt in Krefeld. Dorthin ist der Mediziner 2011 geflüchtet, um sich in Chile der Strafverfolgung zu entziehen. Ein chilenisches Gericht hatte ihn der Beihilfe zum sexuellen Missbrauch für schuldig befunden, für fünf Jahre sollte er deshalb ins Gefängnis. Als Leiter des Krankenhauses der deutschen Siedlung Colonia Dignidad hatte Hopp den Sektenführer Paul Schäfer dabei unterstützt, die Jungen der »Kolonie der Würde« zu vergewaltigen. Ehemalige Sektenmitglieder werfen dem mittlerweile 71jährigen zudem vor, sie zu lebensgefährlichen Arzneimittelversuchen gezwungen zu haben.
»Er hat alles angeordnet und unterzeichnet, zum Beispiel die Medikamente«, sagt Gudrun Müller, die 37 Jahre in der Siedlung am Fuße der chilenischen Anden zubrachte. Auch sie ist nach Deutschland zurückgekehrt. Gemeinsam mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann Wolfgang hat sie die Colonia Dignidad vor zehn Jahren verlassen. Nun kämpft die 74jährige dafür, dass Hopp für seine Verbrechen nicht straflos bleibt.
Als »rechte Hand« Schäfers, wie das in Berlin ansässige European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) Hopp bezeichnet, dürfte der Arzt an vielen Straftaten beteiligt gewesen sein, die in der Kolonie zwischen 1961 und 1997 verübt wurden. Es handelt sich um Kinderarbeit, Morde, Waffenschmuggel und mehr. Frauen mussten als Sklavinnen auf den Feldern schuften. Sex war tabu, Männer, Frauen und Kinder lebten getrennt. Wer aufmuckte, den stellten Schäfer und seine Handlanger mit Psychopharmaka still oder quälten ihn mit Elektroschocks. Während der Militärdiktatur des Generals Augusto Pinochet wurden auf dem Gelände politische Gefangene des Regimes gefoltert, getötet und verscharrt. Der Geheimdienst Dina hatte freie Hand.
Obwohl der Terror jenseits des Atlantik sstattfand, ist die Geschichte der Kolonie eine sehr deutsche. Es geht um absoluten Gehorsam, gegenseitige Kontrolle und fein abgestimmten Terror. Das zeigt nicht nur der Spielfilm »­Colonia Dignidad – es gibt kein Zurück«, der im Feb­ruar in den Kinos anlief. Darauf verwiesen auch Überlebende, die sich in diesen Wochen in Berlin aufhielten, um über Möglichkeiten der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit zu sprechen.
Viele Täter sind Deutsche, viele Opfer sind Deutsche. »Warum also ist die deutsche Justiz so lange untätig gewesen?« fragte sich etwa Winfried Hempel, der in der Siedlung aufgewachsen ist, auf einer Veranstaltung des ECCHR. Und warum habe die Bundesregierung nicht eingegriffen, obwohl schon kurz nach der Gründung 1961 bekannt gewesen sei, was in der Kolonie passiere? CSU-Politiker hielten engen Kontakt zu Schäfer und anderen hochrangigen Sektenmitgliedern, auch die Botschaft in Santiago de Chile kooperierte mit den Siedlern. 25 Jahre lang verschleppte die Bonner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen Hopp und andere, dann stellten die Strafverfolger die Verfahren ein, während chilenische Richter Schäfer und seine Leute ver­urteilten.
»Es gab eine schützende Hand der Politik«, sagt die Anwältin Petra Schlagenhauf. Dennoch ist die Berliner Juristin, die für das ECCHR gegen Hopp klagt, vorsichtig optimistisch. Die Krefelder Staatsanwälte, bei denen das Verfahren zurzeit anhängig ist, seien offener als ihre Bonner Kollegen. Deutschland liefert zwar keine Staatsbürger an Länder außerhalb der EU aus, doch möglicherweise muss der Mediziner seine chilenische Strafe in Deutschland absitzen. Darüber werden demnächst die Strafverfolger entscheiden. Denkbar ist ebenso, dass Hopp hier­zulande für seine Taten vor Gericht gestellt wird. Schließlich handelt es sich um Verbrechen, die von deutschen Staatsbürgern auch an deutschen Staatsbürgern verübt wurden. Darauf hofft auch Gudrun Müller, denn Hopp wurde in Chile nicht wegen der Medikamentenversuche verurteilt.
Doch vor allem die Angehörigen der verschwundenen chilenischen Gefangenen wollen mehr als die Verurteilung der Täter. Sie fordern eine angemessene Form der öffentlichen Erinnerung und können sich auf ein Gerichtsurteil berufen, das im vergangenen Jahr gefällt wurde. Die Richter verpflichteten die Regierung dazu, vor den Toren der Colonia Dignidad ein Denkmal zu errichten. Zudem sollen die Orte, an denen Gegner Pinochets verscharrt wurden, öffentlich zugänglich gemacht werden.
Manchen Opferverbänden geht das nicht weit genug. Sie wollen, dass das gesamte 14 000 Hektar große Gelände zur Gedenkstätte wird. Die »Vereinigung für Erinnerung und Menschenrechte – Colonia Dignidad« setzt sich dafür ein, zumindest einige Orte zu schützen. »Der Kartoffelkeller, in dem Folterungen stattfanden, und die Massengräber müssen unter Denkmalschutz gestellt werden«, fordert Verbandssprecherin Magdalena Garcés.
Jene, die weiterhin in der Siedlung leben, halten davon wenig. Einst lebten 300 Menschen in der Kolonie, mittlerweile sind es nur noch etwa 100. Ihnen könnte eine Gedenkstätte schaden, denn sie haben mittlerweile ein Geschäftsmodell entwickelt: einen Freizeitpark mit den Namen »Villa Baviera« – bayerisches Dorf. Wo einst Oppositionelle gefoltert und Jungen vergewaltigt wurden, bieten sie frisch gezapftes Maßbier mit Schweinshaxen an, inklusive Schuhplattlern und Blasmusik. Finanzielle Unterstützung kam bisher von der Bundesregierung, die bis 2013 insgesamt über eine Million Euro Wirtschaftshilfe überwies.
Weniger offenherzig waren deutsche Behörden, wenn es um die Aufarbeitung der eigenen Rolle ging. »Im Auswärtigen Amt liegen stapelweise Akten unter Verschluss«, kritisiert Politikwissenschaftler Jan Stehle, der seit langem die Rolle der deutschen Regierung in der »Kolonie der Würde« erforscht. Umso bemerkenswerter ist es, dass die deutsche Regierung im vergangenen Jahr in Chile ein Seminar finanzierte, das sich mit der Erinnerung an die Verbrechen beschäftigte. In der Folge trafen sich Anfang Februar Opfer der Kolonie im Berliner Haus der Wannseekonferenz. Es war ein ungewöhnliches Treffen: Erstmals saßen sich Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung und Angehörige verschwundener Oppositioneller gegenüber. Eine vorsichtige Annäherung sei es gewesen, betonte Stehle damals. »Aber es ist schon ein Wunder, dass wir überhaupt hier sitzen«, ergänzte der 37jährige Winfried Hempel.
Hempels Leben ist von Schäfers Regime geprägt. »Ich hatte die Mentalität eines Achtjährigen«, erinnert er sich an die Zeit, als er die Siedlung im Alter von 20 Jahren verließ. Seine Eltern leben immer noch dort, er dagegen studierte Jura und vertritt nun chilenische und deutsche Opfer. Wie in allen tota­litären Herrschaftssystemen ist die Frage der Verantwortung undurchsichtig. Welchen Spielraum hatten die Sektenmitglieder, selbst Macht auszuüben oder sich zu verweigern? Auch der Mediziner Hopp war nicht freiwillig zur Sekte gestoßen, seine Eltern hatten ihn als Zwölfjährigen dorthin gebracht. Später wurde er zu einem von Schäfers Auserwählten. Andere dagegen versuchten zu fliehen.
Von acht hypothetischen Brüdern könnten vier Täter und vier Opfer sein, sagt Hempel. Doch auch aus anderen Gründen bleibt die Auseinandersetzung über Mitverantwortung und Erinnerung schwierig. Denn diejenigen, die immer noch in der Siedlung lebten, hielten sich für Kinder der Opfer des Einzeltäters Schäfer, schildert der Jurist. Viele seien rechtsextrem. »Das Problem ist, dass diese Menschen 50 Jahre Gehirnwäsche hinter sich haben.« Schon den Versuch einer Aufarbeitung sähen viele von ihnen als das Werk von Kommunisten. Dennoch ist Hempel nicht völlig pessimistisch. Schließlich habe das Berliner Treffen bei den Vertretern der »Villa Baviera« sichtlich etwas bewegt.
Doch solange in dem sogenannten bayerischen Dorf das traditionelle Oktoberfest mit Dirndl und Sauerkraut gefeiert wird, dürfte eine Annäherung schwierig bleiben. Während einer Protestaktion vor den Toren der Siedlung sprach sich Gabriel Rodríguez, der dort einst als politischer Gefangener gefoltert worden war, gegen die bierselige Touristenattraktion aus: »Das ist kein Raum für Zirkus, Geldmacherei und Partys.«