In China sind bald zwei Kinder pro Ehepaar erlaubt

Warten auf das Zweite

Nach 35 Jahren schafft China die Ein-Kind-Politik ab. Damit reagiert die Kommunistische Partei Chinas auf den demographischen Wandel.

Ende Oktober kündigte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas nach 35 Jahren die Abschaffung der Ein-Kind-Politik an. Verheirateten Paaren soll ein zweites Kind erlaubt werden. Die historische Wende, jedem verheirateten Paar ein zweites Kind zu erlauben, wird bisher von den chinesischen Behörden nur wortkarg begründet. So verweist das Staatliche Komitee für Geburtenplanung und Hygiene auf den großen historischen Beitrag der Ein-Kind-Politik zur Reduzierung des Bevölkerungswachstums. Seit 1980 sollen etwa 400 Millionen Geburten verhindert worden sein. Nun müsse sich die Politik allerdings dem demographischen Wandel anpassen und auf die Überalterung der Gesellschaft, den Rückgang der arbeitsfähigen jungen Bevölkerung sowie der Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter reagieren. Eine Zwei-Kind-Politik für alle Paare sei das richtige Mittel, ein stabile und kontrollierbare Bevölkerungsentwicklung zu garantieren. Die derzeitige Geburtenrate soll in China bei 1,6 Kindern pro Frau liegen, was selbst im Vergleich mit Industrieländern als niedrig gilt.

Allerdings hat bisher nur die Parteiführung diese Entscheidung getroffen. Im März 2016 soll das Parlament, der Nationale Volkskongress, eine entsprechende Gesetzesänderung vornehmen. Bis dahin gilt noch die Ein-Kind-Politik, die aber schon durch eine Reihe von Ausnahmen gelockert wurde. Für ethnische Minderheiten in ländlichen Gebieten galt die Einschränkung nie. Nachdem die Partei in der ersten Hälfte der achtziger Jahre selbst mit drakonischen Zwangsmaßnahmen daran gescheitert war, auf dem Land die Ein-Kind-Politik durchzusetzen, dürfen Bauernfamilien in den meisten Gegenden ein zweites Kind bekommen, wenn das erste ein Mädchen ist. Seit 2013 dürfen auch städtische Paare zwei Kinder bekommen, wenn beide Eltern Einzelkinder waren. Unverheirateten Paaren oder schwangeren Singlefrauen wird auch weiterhin keine Geburtserlaubnis ausgestellt. Die medizinische Betreuung ungenehmigter Geburten ist nur durch Bestechung von Ärzten möglich. Damit »schwarze Kinder« eine legale Identität bekommen, muss bei den Behörden ein »roter Umschlag« eingereicht werden.
Die Durchsetzung der Geburtenplanung überwacht ein bürokratischer Apparat bis auf die Dorfebene. Unerlaubte Geburten werden heute in erster Linie mit hohen Geldstrafen geahndet. Die Zeiten sind vorbei, in denen es millionenfache Zwangsabtreibungen, selbst im achten Monat der Schwangerschaft, gab. Im derzeit gültigen 12. Fünfjahrsplan gehören die Planziffern für die Bevölkerungsentwicklung jedoch noch zu den wenigen »harten« Vorgaben, die auf jeden Fall eingehalten werden müssen.

In der Stadt ist die Geburtenplanung immer leichter durchzusetzen als auf dem Land, weil im öffentlichen Dienst und in Staatsbetrieben bei illegalen Geburten der Arbeitsplatzverlust droht. Außerdem sind die Lebenshaltungs- und Ausbildungskosten in den Städten so hoch, dass sich viele Paare gar kein zweites Kind leisten können. Schon die Lockerung von 2013 hat nicht den von der Partei erwarteten Geburtenboom ausgelöst. Von feministischer Seite wird allerdings befürchtet, dass sich Frauen dem Druck der Familie, ein zweites Kind zu bekommen, schwerer entziehen können als zuvor. Töchter hätten von der Ein-Kind-Politik profitiert, da Familien bereit waren, in ihre teure Ausbildung zu investieren. Ist ein weiterer männlicher Nachkomme vorhanden, so sei zu erwarten, dass Mädchen wieder benachteiligt werden. Die hohen Ausgaben für die Verheiratung des Sohnes könnten zum Beispiel durch Einsparungen bei der Ausbildung der Tochter ausgeglichen werden. Wenn die Eltern nur das Geld für den Universitätsbesuch eines Kindes haben, könnten Töchter leer ausgehen.
Obwohl Ultraschalluntersuchungen zur Feststellung des Geschlechts des Fötus in China verboten sind, wurden auf dem Land Millionen weiblicher Föten abgetrieben. Das ist eine der ungeplanten Folgen der staatlichen Geburtenpolitik. Die Behörden schätzen, dass es im Jahr 2020 30 Millionen mehr Männer im heiratsfähigen Alter als Frauen geben wird. Eigentlich könnte sich die Partei über den Männerüberschuss als Beitrag zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums freuen, jedoch ist es in China gesellschaftlich nicht akzeptiert, auf Dauer Single zu bleiben und keine Nachkommen zu produzieren. Die staatlich kontrollierten Medien präsentieren einerseits Bauernsöhne, die keine Chance haben, eine Familie zu gründen, als Gefahr für die Stabilität. Anderseits werden gebildete weibliche Singles aus der städtischen Mittelschicht im Alter von über 30 Jahren als »übriggebliebene Frauen« bezeichnet. Sie seien angeblich zu verwöhnt und ihre Ansprüche zu hoch, um einen Ehemann zu finden. Selbst für Homosexuelle ist der familiäre Druck zu heiraten groß, die gleichgeschlechtliche Ehe ist aber nicht legal. Private Websites sind beliebt, die schwule Männer an lesbische Frauen zur Heirat vermitteln, nach außen wird der Schein einer heterosexuellen Familie gewahrt.

Die neue Politik könnte zum Imperativ werden, zwei Kinder zu bekommen. 35 Jahre lang wurde Paaren die Selbstbestimmung verweigert und der Staat beanspruchte den direkten Zugriff auf die Gebärmutter im Namen der Ein-Kind-Politik. Nur diese Maßnahme könne China und die ganze Welt vor einer demographischen Katastrophe bewahren, wiederholte der Propagandaapparat gebetsmühlenartig. Es ist zu erwarten, dass das Abrücken von dieser Politik die staatliche Geburtenplanung als solche in den Augen der Bevölkerung delegitimieren wird. Die Partei musste schon oft die Erfahrung machen, dass die Lockerung des staatlichen Zwangs zum Kontrollverlust führte.