Konservatives Kingdom

Europa bröckelt

Nach dem Wahlsieg der Konservativen in Großbritannien wird die Beziehung zur Europäischen Union diskutiert.

Großbritannien ist an eine morbide Gemeinschaft gefesselt, deren monströse Bürokratie alle produktiven Kräfte lähmt. So lautet das beliebte Argument britischer EU-Gegner. Stattdessen solle das Königreich lieber auf die schnell wachsenden Märkte des Commonwealth setzen. Dann wäre es auch endlich die lästigen Auseinandersetzungen mit der Europäischen Union los, die endlosen Debatten um Sozialstandards, Steuerrecht und Flüchtlinge.
Dem konservativen britischen Establishment schwebt schon seit Langem eine andere Gemeinschaft vor, eine Art Freihandelszone, in der ­Arbeitnehmerrechte keinen großen Wert besitzen. Von den Wirtschaftsliberalen auf dem ­europäischen Kontinent erhalten sie dafür viel Beifall.
Nach seinem fulminanten Wahlsieg kann der britische Premierminister David Cameron diesen Forderungen nun weit entgegenkommen. So will er die Personenfreizügigkeit in den Mitgliedsstaaten deutlich einschränken und die Formel »einer immer engeren Union« aus dem EU-Vertrag streichen lassen. Nur unter diesen Voraussetzungen wäre Cameron bereit, sich anschließend für den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union einzusetzen. Spätestens in zwei Jahren soll in einem Referendum über diese Frage entschieden werden.
Dass er sich mit seinen Forderungen durchsetzt, ist allerdings kaum zu erwarten. Vor allem die osteuropäischen EU-Staaten lehnen es kategorisch ab, die Freizügigkeit zu begrenzen. Bereits im Wahlkampf hatten xenophobe Äußerungen ­Camerons dort große Empörung ausgelöst. Und fast ausgeschlossen scheint es, dass sich die 28 EU-Mitgliedsstaaten auf eine gemeinsame Vertragsänderung einlassen werden, die nur Großbritannien zugutekommt.
Dabei haben beide Seiten viel zu verlieren. Großbritannien profitiert stärker vom gemeinsamen Binnenmarkt, als es viele dort wahrhaben wollen. Fast die Hälfte des britischen Handels findet mit den EU-Staaten statt. Zwar ist die britische Finanz­industrie in einem hohen Maße globalisiert und orientiert sich eher an den USA und Asien. Aber auch für die City of London ist ein einheitlicher europäischer Markt höchst attraktiv. Für alle anderen Branchen ist er unentbehrlich. Nach aktuellen Berechnungen der Bertelsmann-Stiftung und des IFO-Instituts könnte ein EU-Austritt das Land über 300 Milliarden Euro kosten, das britische Bruttosozialprodukt könnte um bis zu 14 Prozent schrumpfen.
Umgekehrt steht auch für die EU bei einem möglichen britischen Austritt viel auf dem Spiel, ­zumal dann auch schnell Irland folgend könnte. Wirtschaftlich könnte sie einen Austritt zwar verkraften, politisch wäre dieser aber verheerend. Ohne Großbritannien wäre der sowieso nur mühsam aufrechterhaltene Anspruch der EU, ein globaler Akteur zu sein, kaum mehr zu vertreten.
Die Debatte kommt zudem höchst ungelegen, weil ein baldiger Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone nicht mehr ausgeschlossen ist. Der EU droht damit gleichzeitig ein politischer und ein wirtschaftlicher Zerfallsprozess. Übrig bliebe dann eine Art Kerneuropa, das sich derzeit vor allem Rechtspopulisten wünschen. Eine schwache EU käme auch Russland sehr gelegen.
Ein Austritt Großbritanniens würde somit erst den Zustand schaffen, vor dem die britischen EU-Kritiker so eifrig warnen: eine morbide Gemeinschaft ohne Perspektiven.