»Das Gefühl, dass sich nichts jemals wieder ändern wird«
»Gespenster meines Lebens« ist der Titel Ihres neuen Buchs. Welche Gespenster gehen bei Ihnen um und wo haben Sie sie entdeckt?
Ich entdecke sie nicht, sie heften sich vielmehr an uns. Mich beschäftigen zwei Arten von Gespenstern: die, die vorzeitig verschwanden, und die, die noch nicht gekommen sind. Am Ende sind beide miteinander verbunden. Wenn etwas zu früh stirbt, noch bevor es sein Potential erreicht hat, werden wir von dem heimgesucht, was es hätte werden können. Mein Buch behandelt eine Reihe kultureller und politischer Bewegungslinien, die zu früh endeten. Meine Gespenster gehören in einen Bereich, den ich »Populären Modernismus« nenne.
Was ist das?
Im Populären Modernismus konnte die Kultur herausfordernd und experimentell sein und war zugleich weitverbreitet. Ich diskutiere die Beispiele Post-Punk, Dance Music und die Filme von Stanley Kubrick. Die über dem Buch schwebende Frage lautet: Warum gibt es heute keine gleichwertigen Phänomene? Es geht nicht um die Sehnsucht nach bestimmten Künstlern oder Genres, sondern um die Heimsuchung des Gedankens, was passiert wäre, wenn der Populäre Modernismus bis ins 21. Jahrhundert angehalten hätte.
Ist Hauntologie – der Begriff stammt von Jacques Derrida – auch als Methode zu verstehen?
Man kann sie ansehen als Studium der Wirksamkeit des Virtuellen, das Effekte ohne physische Existenz produziert. Darum besitzt sie eine notwendige spekulative Dimension.
Die Fernsehserie »Life on Mars – Gefangen in den Siebzigern« ist eines Ihrer Beispiele. Sind wir in den Siebzigern gefangen?
Das glaube ich nicht. Aber es gibt eine spezielle Faszination, die von dieser Zeit ausgeht, weil sie den Formen der Gefangenschaft vorausging, die nun allgegenwärtig sind. Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger kam der Neoliberalismus auf. Er zerstörte allmählich, aber unerbittlich die Bedingungen, unter denen der Populäre Modernismus gedeihen konnte. Er attackierte die direkten und – vielleicht noch wichtiger – die indirekten Quellen, die dieses Experimentieren unterstützten. Viele Dinge, die Künstlern damals eine Zeit des Experiments ermöglichten – BAföG, sozialer Wohnungsbau, Erwerbslosenunterstützung –, wurden begrenzt oder abgeschafft.
Sie sagen, wir stecken in einer Zeit ohne Zukunft fest?
Es ist das Gefühl, dass das 21. Jahrhundert heimgesucht wird von den Phantomen vieler Zukünfte – politischen, kulturellen, technologischen –, die in ihrer Verwirklichung gescheitert sind. Klar, es gibt das Internet, aber die Weltraumfahrt hat sich kaum entwickelt seit den Achtzigern. Politisch wird die Zeit seit den Siebzigern größtenteils bestimmt durch einen immensen Angriff auf die Errungenschaften progressiver Kräfte – ein Die-Uhr-Zurückdrehen auf die Verhältnisse vor der Sozialdemokratie. Kulturell gesehen gibt es wenige bis keine Formen, die im 21. Jahrhundert entstanden sind oder nicht schon im 20. Jahrhundert hätten existieren können.
Zum Beispiel?
Mitte des letzten Jahrzehnts begannen ich und einige andere Kritiker, das Konzept der Hauntologie für eine Gruppe von Musikern zu benutzen, die diesem Gefühl von zeitlicher Krise und Enttäuschung auf verschiedene Weisen Gestalt verliehen. Das Label Ghost Box träumte sich irgendwie die sozialdemokratische Ära zurück. Ihre Verwendung elektronischer Sounds, ihr Bezug zum Graphik-Design der Sechziger und Siebziger wirkten wie ein Vorwurf an die Gegenwart. Oder Burial: Seine Musik wurde heimgesucht von den Gespenstern der – damals – jüngsten Vergangenheit, der britischen elektronischen Dance Music der Neunziger. Seine Musik stellte die Frage: Was geschah mit dem modernistischen Impuls in der Dance Music? Die Neunziger hindurch befand sie sich in einem Zustand mutierender Dynamik, wirbelte beständig neue unerwartete Sounds und Gefühle auf. Mitte der nuller Jahre gab es nichts Vergleichbares. Was mir wichtig ist: Es geht nicht um das Verlangen, die Vergangenheit zurückzuholen, sondern um die Zukünfte, die die Siebziger und Neunziger entwarfen, die sich aber nie realisierten. Populärer Modernismus zwang uns, ein 21. Jahrhundert zu imaginieren, das sich sehr unterscheidet von der Zeit, in der wir jetzt leben.
Im Pop sehen Sie nur ein Beispiel für den Zustand einer gegenwärtig konservativ verfassten Gesellschaft. Warum fragt keiner mehr nach Innovationen?
Es liegt nicht daran, dass niemand mehr fragt, sondern daran, dass niemand mehr etwas erwartet. In den letzten 50 Jahren wurden unsere Erwartungen heruntergeschraubt. Wir haben implizit die Idee akzeptiert, in einer Zeit nach dem Goldrausch zu leben. Die Zeit großer Kultur liegt in der Vergangenheit. Was jedoch zuverlässig geliefert wird, sind technische Upgrades der Maschinen, mit denen Kultur verbreitet und konsumiert wird. Das gleiche alte Zeug auf höher auflösenden Bildschirmen.
Sie vermissen einen »Zukunftsschock«. Warum brauchen wir den?
Ein Zukunftsschock zwingt, uns kontinuierlich dem Unerwarteten und Unvorhersehbaren anzupassen. Wir benötigen ihn nicht als solches, aber ihn zu erfahren, war ein Zeichen für eine lebhafte, mutierende Kultur. In einer Situation, wo das Unerwartete verschwunden ist, erleben wir auch diesen Schock nicht mehr.
Wir laufen eine Art Möbiusband entlang?
Ich sehe es mehr als eingeebnete Zeit. Die Sechziger scheinen heute näher, als sie es 1980 waren. Es wird zunehmend schwieriger, ein Jahr vom anderen zu unterscheiden. Zeitspannen sind jetzt wie die Nicht-Orte des globalen Kapitalismus – die Einkaufszentren und Flughäfen sehen überall gleich aus, egal, in welcher Stadt man ist.
Könnte man nicht einwenden, dass gerade die Suche nach Innovation und der Fortschrittsglaube die modernen Pathologien verursacht haben?
Innovation und Fortschritt sind nicht dasselbe. Die Fortschrittsidee mag Sinn haben in Bezug auf Politik oder Medizin, hat aber keine Verwendung in der Kultur. Man kann sagen, Demokratie ist eine fortschrittliche Entwicklung verglichen mit dem Feudalismus. Es wäre aber absurd zu sagen, dass Kraftwerk einen größeren Fortschritt in der Musik markierten als James Brown. Beide haben zu ihrer Zeit ihre Gegenwart innovativ erfasst. Dass das Verlangen nach Innovation schädlich ist, verneine ich. Die Alternative wäre, Stillstand zu akzeptieren – das scheint mir keine positive Entwicklung zu sein.
Ist der Fokus auf Retro ein Teil dessen, was Sie »Kapitalistischer Realismus« nennen – die Idee, dass es keine Alternative gibt?
Ja. Mein Buch »Kapitalistischer Realismus« beginnt mit dem Film »Children of Men«, der von einer Krise der Unfruchtbarkeit handelt: Eine Generation lang wurden keine Kinder geboren. Ich argumentiere, dass es eigentlich um kulturelle und politische Sterilität geht, das Gefühl, dass sich nichts jemals wieder ändern wird. Die kulturelle Logik im Spätkapitalismus tendiert zu Pastiche und Retrospektion. Politisch sind wir in einen Neoliberalismus mit Zombie-Zügen eingesperrt.
Sie vergleichen das heutige Leben mit dem Dasein des Hausmeisters in Stanley Kubricks Film »Shining«. Wie kann man dem Horrorhotel Gegenwart entfliehen?
Schwierig, aber ich glaube, das Problem hat mit der Verfügbarkeit einer bestimmten Art von Zeit zu tun: einer Zeit ohne Druck, frei von den Dringlichkeiten des Geschäfts. Nur in dieser Zeit kann Neues auftauchen. Die Einführung der Prekarität besteht zum Großteil in der Eliminierung dieser Art von Zeit aus der Kultur. Wir müssen für eine Rückkehr dieses anderen Zeitmodus kämpfen. Das beinhaltet die Rückkehr von vielem, was der Neoliberalismus zerstört hat. Aber ultimativ sollten wir darüber hinausblicken, was die Sozialdemokratie errichtet hat – auf etwas Radikaleres als ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das kann nur durch eine Kombination aus sozialen Bewegungen und neuen parlamentarischen Kräften erreicht werden. Wenn uns der Kampf gegen den Neoliberalismus eines gelehrt hat, dann, dass beides allein nicht ausreicht.
Musik hat für Sie ihre zentrale kulturelle Rolle verloren?
Ja, sie ist zum allgegenwärtigen Hintergrund geworden statt etwas, auf das wir fokussieren.
Sie vermissen Melancholie – warum?
Das 21. Jahrhundert ist voller Melancholie, aber sie wird oft desavouiert oder unterdrückt. Ich betone eine spezielle Art von Melancholie, weil ich denke, sie ist ein Weg, an unserem Begehren nach etwas Anderem und Neuem festzuhalten. Diese Melancholie besteht in der Weigerung, sich dem »Realismus« des kapitalistischen Realismus anzupassen.
Mark Fisher: Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und der Verlust der Zukunft. Aus dem Englischen von Thomas Atzert. Edition Tiamat, Berlin 2015, 256 Seiten, 20 Euro