Rudolf Gelbard im Gespräch über seine Deportation, die Rückkehr nach Wien und den Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus in der Zweiten Republik

»Ich habe nie geglaubt, dass ich überleben werde«

Rudolf Gelbard wurde am 4. Dezember 1930 als Sohn einer jüdischen Familie in Wien geboren. Er wurde mit seinen Eltern am 2. Oktober 1942 ins Konzentrations­lager Terezín (Theresienstadt) deportiert, das im Mai 1945 von der Roten Armee befreit wurde. Gelbard genoss kaum reguläre Schulbildung, wurde aber im KZ unter anderem im linken Zionismus unterrichtet. Nach seiner Rückkehr nach Wien entschied er sich, nicht zuletzt aufgrund der Lek­türe der »Protokolle der drei Moskauer Schauprozesse«, gegen eine Mitgliedschaft in der KPÖ und trat in die SPÖ ein. Gelbard beteiligte sich an allen wichtigen antifaschistischen Bewegungen seit 1946 in Österreich und war Mitglied der Bricha, die die illegale Emigration von Juden ins britische Mandatsgebiet Palästina organisierte. Bis heute legt Gelbard großen Wert auf historische Genauigkeit und ist ein Kenner österreichischer und zionistischer Geschichte. Er betreibt seit vielen Jahren Aufklärungsarbeit, hält Vorträge und wirkt bei der Zeitzeugenproduktion »Die letzten Zeugen« am Wiener Burgtheater mit. Für seine Tätigkeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. Seit 2008 vergibt der »Republikanische Club – Neues Österreich« den »Rudolf-Gelbard-Preis für Aufklärung gegen Faschismus und Antisemitismus«. Gelbard ist einer der letzten österreichischen Zeitzeugen und bis heute im Vorstand des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes.

Sie sind im Mai 1945 als 14jähriger aus dem befreiten KZ Terezín zurück nach Wien gekommen, das am 13. April von der Roten Armee befreit worden war. Wie war damals die Stimmung in der Stadt?
Wien war eine teilweise zerstörte Stadt. In den ersten zwei Jahren habe ich vorwiegend mit Juden und politischen Häftlingen der verschiedensten antifaschistischen Strömungen verkehrt, etwas später mit Künstlern, kosmopolitischen Intellektuellen und Kämpfern aus dem spanischen Bürgerkrieg, Tito-Partisanen oder Leuten aus den alliierten Armeen. Man hatte Misstrauen, weil man den Hintergrund der meisten anderen Menschen nicht kannte: Waren sie Nazis oder nicht?
Wie waren die Reaktionen auf Ihre Rückkehr?
Ein Beispiel: Im August 1945 wollte ich mit drei anderen ehemaligen KZ-Häftlingen ins Kino gehen, doch es war ausverkauft. Wir haben gefragt, ob wir nicht stehen könnten, weil wir gerade aus dem KZ gekommen waren und lange keinen Film gesehen hatten. Als die Zuschauer das mitbekamen, wurden wir von einem erheblichen Teil des Publikums umringt und in ordinärster Sprache beschimpft: »Ihr Hurenjuden, ihr Scheißjuden, wieso seid ihr nicht vergast worden?« Dieses ­Erlebnis nach den unglaublichen Verbrechen des Nazismus hat mir gezeigt, dass es nicht wenige Reste von schwerem Antisemitismus gibt. Wir sind weggelaufen. Mit Antisemiten zu diskutieren, hat Leszek Kolakowski einmal gesagt, ähnelt immer dem Versuch, einem Tier das Sprechen beizubringen.
Wie haben Sie die letzten Monate in Terezín und die Befreiung erlebt?
Ich habe nie geglaubt, dass ich überleben werde. Dass ich überlebt habe, hatte mit meiner Mutter zu tun, die für die deutsche Luftwaffe gearbeitet hat. Deshalb sind wir zeitweise von den Transporten zurückgestellt worden. Als sie die Produktion eingestellt haben, konnten sie uns nicht mehr nach Auschwitz II zur Vergasung bringen, weil beim Aufstand des Sonderkommandos im Oktober 1944 die Gaskammern gesprengt worden waren. Im Februar 1945 war geplant, in Theresienstadt Gaskammern zu bauen, um das Lager zu ­liquidieren. Diese Pläne wurden aber unter den Häftlingen bekannt, die SS hatte Angst vor einem Aufstand, die Pläne waren daher nicht mehr durchführbar. Trotzdem haben aus Prag abziehende SS-Einheiten, als sie vorbeikamen, Handgranaten ins Lager geworfen. Sie haben es nicht ertragen, dass sie den Krieg verlieren und ein paar von uns Juden überleben. Am 5. Mai sind wir dem Roten Kreuz übergeben worden, dann kamen die sowjetischen Truppen. Das war wie eine Wiedergeburt.
Am 27.  April 1945 riefen die wiedergegründeten Parteien KPÖ, SPÖ und ÖVP gemeinsam die zweite Republik aus. Wie war die politische Stimmung?
Bis Anfang 1949 gab es in der veröffentlichten Meinung einen starken Antifaschismus, von damals stammt auch das Verbotsgesetz, das nationalsozialistische Wiederbetätigung verbietet und nach wie vor in Kraft ist. Der antifaschistische Konsens änderte sich aber bald.
Für mich ist bis heute eines sehr berührend: Noch in den fünfziger Jahren hat sich die österreichische Widerstandsbewegung – nur ehemalige Widerstandskämpfer und KZ-Häftlinge – einmal im Jahr getroffen. Darunter waren Mitglieder der ÖVP, der SPÖ, der KPÖ, ehemalige Kommunisten, Parteilose, Priester, Pastoren und Rabbiner. Dort waren ein Geist des Zusammenhalts und eine absolute Gegnerschaft gegen den Nazismus zu spüren.
Dennoch waren vor allem die ÖVP und die SPÖ, aber auch die KPÖ an der Reintegration ehemaliger Nazis beteiligt.
Die antifaschistische Stimmung änderte sich spätestens 1949. Die Anti-Hitler-Koalition zwischen den USA und der Sowjetunion war zerbrochen, der Kalte Krieg begann. Außerdem durften die Nazis, die von der ersten Wahl 1945 aus­geschlossen waren, wieder wählen. Es ging um über 600 000 Mitglieder der NSDAP und 300 000 Familienmitglieder, diese Menschen konnte man in der aufzubauenden Republik nicht ewig in Quarantäne halten. Deshalb haben die österreichischen Parteien um ihre Stimmen geworben. Das war realpolitisch verständlich, aber die Formen waren oft anpasserisch und würdelos, es war ein regelrechtes Buhlen.
Die ÖVP hielt 1949 in Oberweis eine Geheimkonferenz mit ehemaligen Nationalsozialisten ab, um deren Stimmen zu gewinnen. In meiner Partei, die damals eine sozialistische Partei war, war der Innenminister Oskar Helmer vom äußersten rechten Flügel der Meinung, dass das Bürgertum früher in drei Strömungen geteilt war: Nationale, Klerikale und Liberale. Für die ÖVP war es ein Geschenk, Sammelpunkt dieser drei Strömungen zu sein, während die Konkurrenz der SPÖ die Kommunisten waren. Deshalb hat Helmer die Gründung einer vierten Partei angestrebt, um das bürgerliche Lager zu spalten. Viele ehemalige Nationalsozialisten hatten ab 1949 im Verband der Unabhängigen (VdU) eine starke Basis. Aus dessen Resten entstand 1956 die FPÖ. In diese sind aber die Gründer des VdU nicht eingetreten, weil sie der Meinung waren, dass das ein Rechtsruck sei.
Welche politischen Kämpfe haben Sie seit 1945 geführt?
Die erste antifaschistische Aktion war 1946. Wir belagerten damals einen Tag die Universität, weil angeblich bei einer Vorlesung einige beifällig getrampelt hatten, als von Pogromen gegen Juden im Mittelalter die Rede war. 1948 haben wir versucht, die Gründungsversammlung der Ariseure, die sich euphemistisch »Verband der Rückstellungsbetroffenen« nannte, zu stören, damit sie aufgelöst wird. 1955 gab es Auseinandersetzungen, als der aus dem VdU ausgeschlossene Nationalratsabgeordnete Dr. Fritz Stüber eine Kund­gebung unter dem provokativen Titel »Hungerrenten und die jüdischen Forderungen an Österreich« abhielt.
1959 marschierte bei der sogenannten Schillerfeier das erste Mal das nationale Wien auf. Dort gab es massive Schlägereien mit deutschnationalen Burschenschaftern und dem – man beachte die Abkürzung BHJ – Bund Heimattreuer Jugend. Angeblich war auch die Kameradschaft IV, also die ehemalige SS, dabei. Das war die Vorstufe zu den zwei Demonstrationen gegen den Professor Taras Borodajkewycz im März 1965, der unablässig antisemitische Bemerkungen in Vorlesungen gemacht hatte. Dabei wurde der ehemalige Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger von Günther Kümel erschlagen, der sich bis heute in der rechtsextremen Szene in Deutschland bewegen soll. Er wurde nur wegen Notwehrüberschreitung zu zehn Monaten Haft verurteilt. Borodajkewycz wurde 1966 nach langen Auseinandersetzungen bei vollen Bezügen zwangspensioniert. Außerdem haben wir ununterbrochen Demonstrationen gegen zahlreiche Freisprüche organisiert, etwa des Schlächters von Vilnius, Franz Murer, oder des Transportreferenten von Eichmann, Franz Novak, der erst im dritten Prozess zu einer geringen Haftstrafe verurteilt wurde.
Welche Auseinandersetzungen führen Sie heute?
Wichtig ist mir der Kampf gegen den Ball der Burschenschaften, den ehemaligen WKR-Ball in der Hofburg, der jetzt als Akademikerball der FPÖ getarnt ist. Daran haben, vor allem in den vergangenen Jahren, viele Rechtsextreme teilgenommen. Dagegen haben wir demonstriert, ich habe mehrmals am Heldenplatz gesprochen.
Es hat lange gedauert, bis Ihnen nicht nur der Staat Auszeichnungen verlieh. Warum so spät?
Das hat sich wahrscheinlich so ergeben, weil man wusste, dass ich seit 1946 bei allen antifaschis­tischen Aktionen dabei war und mich intensiv mit Teilgebieten der Zeitgeschichte beschäftigt habe. Nach der Waldheim-Affäre hat sich einiges verändert. Positiv ist, dass sich die Kräfteverhältnisse bei Wahlen der Studentenvertretungen seitdem nach links verschoben haben. Und wenn ich heute an Schulen gehe, sind viele Schüler von ihren Lehrern im demokratischen, antifaschis­tischen Geist für die Diskussion mit uns Zeitzeugen vorbereitet.
Wie stehen Sie zum offiziellen österreichischen Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus und der Art, wie Jahrestage begangen werden?
Ich gehöre nicht zu jenen, die das alles zu kritisch sehen. Natürlich ist manches Lippenbekenntnis. Aber man muss anerkennen, dass wir, die letzten Zeugen, mit der gleichnamigen Produktion des Burgtheaters, im Parlament sein werden und wir, vier Überlebende, die Möglichkeit haben werden, vor der Regierung, allen Parteien, dem diplomatischen Korps und vielen Schulklassen eine Erklärung abzugeben. Das muss man positiv sehen.