Ein Bericht vom Weltsozialforum in Tunis

In die Wüste geschickt

Das Weltsozialforum Tunis II wurde von nationalistischen Animositäten dominiert.

Der Konferenzsaal im Hotel Afrique ist bis auf den letzten Platz besetzt, auch hinter den Stuhlreihen drängen sich noch Menschen. Das tunesische Fernsehen ist da, Journalisten aus aller Welt sind gekommen. Zwei Koordinatoren des zwölften Weltsozialforums, das dieses Jahr zum zweiten Mal in Folge in Tunis stattfindet, eröffnen am Freitag voriger Woche die ad hoc einberufene Pressekonferenz mit den Worten, man müsse und wolle »eine Erklärung gegen Gewalt« abgeben.
Doch es geht nicht um den Terroranschlag auf das Bardo-Museum zehn Tage zuvor. Um was es geht, erschließt sich zunächst nur jenen, die Arabisch oder Französisch verstehen. Denn die beiden Koordinatoren beginnen die Pressekonferenz in arabischer Sprache. Erst nach wiederholter Aufforderung aus dem Publikum übersetzen sie einen Teil des Gesagten ins Französische. Sie sprechen »von der Einheit des Maghreb« und verurteilen die »Aggression einer bestimmten Gruppe, die Veranstaltungen des Forums stört«. Dann beginnen drei Männer die beiden Koordinatoren wüst zu beschimpfen. Ein Tumult bricht aus, die Pressekonferenz wird abgebrochen.
Da taucht endlich eine Pressesprecherin des Forums mit Englischkenntnissen auf. Hana Trabelsi betont, dass sie nicht über Nationalitäten und Nationalisten sprechen möchte, dass aber der historische Grenzkonflikt zwischen Algerien und Marokko begonnen habe, das Forum zu dominieren. Tatsächlich haben algerische NGOs und Basisorganisationen insgesamt 800 Teilnehmer und Teilnehmerinnen zum diesjährigen Forum entsendet sowie insgesamt 200 Veranstaltungen angemeldet. Die meisten dieser Veranstaltungen fanden aber gar nicht statt, sondern erschienen lediglich im Programm. Die Schweizer Journalistin Annegret Mathari geht davon aus, dass »Schein-NGOs« von der algerischen Regierung unter Abd al-Aziz Bouteflika speziell für das Forum ins Leben gerufen wurden, weil Parteien oder Regierungsorganisationen dort nicht zugelassen sind.
Zum ersten Vorfall kommt es bereits am ersten Tag des Forums auf dem Campus der Manar-Universität. Während eines Treffens von Frauengruppen aus Marokko erscheint ein Dutzend Menschen aus Algerien und skandiert so lange und so lautstark nationalistische Parolen, bis die Versammlung abgebrochen wird. Von Anhängern Bouteflikas wird auch die Veranstaltung einer algerischen Umweltgruppe gestört, die die verheerenden sozialen und ökologischen Auswirkungen der Gewinnung von Schiefergas in der zentralalgerischen Wüstenregion In Salah zum Thema hat, in die auch das französische Unternehmen Total involviert sein soll. In den vergangenen Wochen hatte sich in Algerien sogar erstmals eine Umweltbewegung gegen dieses Projekt formiert. Eine regierungsnahe algerische NGO reagiert darauf im Rahmen des Forums mit einer Konferenz über die Vorteile des Fracking für die »nationale Entwicklung«.
Doch auch die meisten der teilnehmenden marokkanischen NGOs gelten als Scheinorganisationen, die König Mohammed VI. nahestehen. Marokko befindet sich nicht nur seit 1963 im Grenzkonflikt mit Algerien, sondern seit 1976, als die Spanier aus der benachbarten Westsahara abzogen, auch im Konflikt mit der Guerillabewegung Frente Polisario. Diese vertritt die sahaurische Bevölkerung der Westsahara, deren Nordteil von marokkanischen Truppen besetzt ist. Viele sahaurische Flüchtlinge leben seither in Camps nahe Tindouf auf der algerischen Seite der Grenze. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die algerische Regierung die Frente Polisario unterstützt.

Für die von der Weltöffentlichkeit ansonsten weitgehend ignorierten Sahauris ist das Weltsozialforum traditionell ein Ort, um auf ihre Belange aufmerksam zu machen. Doch dieses Mal werden auch ihre Veranstaltungen gestört – von Delegierten aus Marokko. Am Donnerstag kommt es an der juristischen Fakultät sogar zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, nachdem während eines Workshops über die Situation der sahaurischen Flüchtlinge marokkanische Teilnehmer behauptet haben, die algerische Regierung sehe tatenlos zu, wie Islamisten in den Flüchtlingscamps von Tindouf junge Männer für den Jihad rekrutierten.
Auch die »internationale Versammlung der sozialen Bewegungen« streitet dieses Jahr darüber, ob die sogenannte Sahara-Frage in ihre Abschlusserklärung aufgenommen werden soll. Schließlich verzichtet man darauf. »Zu heiß«, kommentiert Hector de la Cueva die Entscheidung. Der Gewerkschafter aus Mexiko ist seit dem ersten Weltsozialforum 2001 im südbrasilianischen Porto Alegre dabei. Er vermisst dieses Jahr die »vielen anderen Genossen aus Mexiko, die sonst immer dabei waren. Schließlich atmet die Idee der Weltsozialforen den Geist der Zapatisten.«
Während des Weltsozialforums 2011 in der senegalesischen Hauptstadt Dakar hatte man beschlossen, die progressiven Kräfte des »arabischen Frühlings« zu unterstützen und deshalb das Forum 2013 in Tunis auszurichten. Doch schon vor zwei Jahren gab es Ausschreitungen wie etwa das öffentliche Verbrennen israelischer Fahnen. Mehr als fragwürdig erschien auch die Anwesenheit regierungsnaher Organisationen etwa aus Syrien. Vier Jahre nach dem Beginn der arabischen Revolten verdeutlicht das diesjährige Treffen auf bedrückende Weise, wie tief die Konflikte und Widersprüche in der Region sind.

Nicht nur fand wegen des Anschlags im Bardo-Museum das gesamte Forum mit rund 4 000 Organisationen, 2 000 Veranstaltungen und mindestens 20 000 Teilnehmern unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen statt. Es ist auch ein Forum geworden, in dem eine mehrheitlich staatstragende arabische Linke antiimperialistischer und eher säkularer Ausrichtung dominiert. Man kann sich auf eine Verurteilung des militanten politischen Islam einigen. Ansonsten ist der kleinste gemeinsame Nenner ein »befreites Palästina«, die wichtigsten Themen aber sind nationalistische Konflikte wie etwa umstrittene Grenzverläufe. Die neuen postnationalstaatlichen Ideen der kurdischen Organisationen aus Nordsyrien stoßen bei den meisten arabischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern kaum auf Interesse. Israelische Linke sind überhaupt nicht vertreten – sie bekommen kein Visum.
Dabei stünden für die während der Pressekonferenz von den Koordinatoren des Forums verzweifelt beschworene »Einheit des Maghreb« genügend weitere dringende Fragen mit regionaler Dimension an. Die Auswirkungen des Grenz- und Mobilitätsregimes der EU auf die »Außengrenze« zu Nordafrika gehören dazu oder auch Ressourcen- und Umweltfragen. Vor allem Migration bildete einen heimlichen Schwerpunkt. Täglich gab es mehrere Workshops etwa mit Angehörigen der im Mittelmeer auf ihrem Weg nach Europa verschollenen Menschen, Informationsveranstaltungen von geflüchteten Arbeitsmigranten aus Libyen, die seit Jahren in einem Camp in Choucha in der Wüste im Süden Tunesiens festsitzen, sowie Seminare des internationalen Netzwerks »Watch the Med«, das ein Alarmtelefon für Migranten und Migrantinnen in Seenot betreibt und während des Forums Kontakte zu Gruppen in Tunesien und Libyen aufgebaut hat, die auf eine Überfahrt nach Europa warten oder sich um Ausreisewillige kümmern. Dies sind eher klandestine Formen von grenzüberschreitendem globalisierungskritischem Aktivismus, der sich mit jenen vernetzt, die auf leisen Sohlen gehen müssen und daher im nationalistischen Geschrei nicht gehört werden können. Sie werden sich wohl ein anderes Forum suchen – und finden.