Die Architektur des Berliner Stadtteils Marzahn

Kantig und praktisch

Der Berliner Stadtteil Marzahn gilt als exemplarisch für die Plattenbauweise der DDR. Dabei hat Marzahn in den 35 Jahren seines Bestehens keine typische Ent­wick­lung genommen. Nachdem der Stadtteil binnen kürzester Zeit seinen Auf- und Ab­bau erlebt hat, könnte schon bald der Weiterbau folgen.

Bevor die sozialistischen Baubrigaden kamen, erstreckten sich hier Wiesen und Felder. Nur ein kleines Dorf war in dem Areal zu finden, das etwas verschlafen jenseits des Stadtrands lag. Es sollte dem neu entstehenden Stadtteil seinen Namen geben: Marzahn. 35 Jahre ist das nun her – für die Entwicklung eines städtischen Raums dieser Größenordnung eine kurze Zeitspanne. 1987 lebten bereits über 170 000 Menschen in Marzahn, derzeit hat der inzwischen mit Hellersdorf fusionierte Bezirk 250 000 Einwohner. Hier leben mehr Menschen als in den beiden größten Städten des Nachbarbundeslandes Brandenburg zusammen.
1975 waren die Tiefbaubrigaden angerückt, 1977 wurden die ersten Häuser hochgezogen. Dass die Plattenbausiedlung nun 35 Jahre alt wird, bot den Vertretern des sozialistischen Bildungsvereins Helle Panke und der Rosa-Luxemburg-Stiftung einen Grund zum Feiern. Geladen wurde zum Empfang nicht nach Marzahn, sondern in die Räumlichkeiten eines Altbaus in Berlin-Prenzlauer Berg.
Der Architekt und Stadtplaner Wolf-Rüdiger Eisentraut tritt nach vorn und erhebt das Wort. Er gilt als einer der Väter des Bezirks und ist seinem durchbetonierten Stadtteil bis heute treu geblieben. Den Aufbau, der sich durch die ganzen achtziger Jahre zog, hat er begleitet, bis schließlich mit dem Rückbau begonnen wurde. Rückbau – ein Wort, das dem 71jährigen Eisentraut nicht liegt. Beschönigend sei diese Bezeichnung für das, was eigentlich Abriss genannt werden müsse und für eine Phase steht, in der viele Bewohner Marzahns dem Plattenbau den Rücken kehrten. Damals fielen etwa 3 500 Wohnungen den Baumaßnahmen zum Opfer. Eisentraut selbst hatte ein Verfahren entwickelt, das es den übrigen Bewohnern der Gebäude ermöglichte, während der Bauarbeiten in ihren Wohnungen zu bleiben.
Als um die Jahrtausendwende allerorten über das Phänomen der shrinking cities gesprochen wurde und man sich fragte, wie mit den nicht länger genutzten Plattenbauten der ehemaligen DDR umzugehen sei, bezog sich kaum jemand auf Marzahn. Das Quartier entwickelte sich anders als vergleichbare Großsiedlungen. In Marzahn erreichten Leerstand und Abriss zu keinem Zeitpunkt ein Ausmaß, das mit anderen Neubauquartieren der ehemaligen DDR vergleichbar gewesen wäre.
Geblieben sind sie trotzdem, die großen unansehnlichen Flächen, die durch den Abriss entstanden sind. Grund dafür sind Festlegungen in der Abrissförderung, die vorsehen, dass große Flächen erst nach 15 Jahren wieder bebaut werden dürfen. Aber diese Regelungen seien »nicht von Gott gemacht«, sagt Eisentraut, der, untypisch für Architekten und Stadtplaner, nach seinem Abitur eine Ausbildung zum Maurer gemacht hat.
Bevor Eisentraut seine Arbeit im Bau- und Montagekombinat Ingenieur-Hochbau Berlin aufnahm, einem Entwurfsbüro, das neben den Bauten in Marzahn auch den Palast der Republik geplant hat, hatte er sich seine Sporen im Büro Herman Henselmanns verdient. Henselmann war verantwortlich für die Gestaltung des Alexanderplatzes mitsamt dem Fernsehturm und dem Haus des Lehrers – Wahrzeichen Ostberlins, die heute Touristenattraktionen sind.
Marzahn wurde am Reißbrett entworfen, die Planung geht zurück auf einen Magistratsbeschluss aus dem Jahr 1973. Das erklärte Staatsziel der DDR bestand damals darin, bis 1990 jeder Familie eine Wohnung zu beschaffen. »Für die kleine DDR war es anstrengend zu bauen«, sagt Eisentraut. Deshalb kam nur das industrielle Bauen mit der WBS 70 in Frage. WBS 70 steht für Wohnungsbauserie 70, ein standardisiertes Wohnhaus in Plattenbauweise, das erst wenige Jahre zuvor an der Technischen Universität Dresden entwickelt worden war. Die Wohnungen sollten 66 Quadratmeter groß sein und »allgemeines Wohlbefinden« erzeugen. Eine Qualität, die alle zwei Jahre durch Vertreter der Humboldt-Universität überprüft wurde. Angeblich seien 60 bis 65 Prozent der befragten Bewohner über die Jahre mit der Wohnsituation zufrieden gewesen. Mit den ersten Nachbauten sei die Quote sogar auf 76 Prozent gestiegen und habe sich in den ersten Jahren nach der Wende gehalten.
Aber Marzahn wurde trotz Kino, Schwimmbad und seiner berühmten Promenade zu einer Schlafstadt. Viele Vorhaben konnten nicht verwirklicht werden, es fehlten die Mittel: »Erst war das Geld weg, dann der Staat«, sagt Eisentraut. 40 000 Marzahner arbeiteten in der angrenzenden Industrie in Arealen, die mittlerweile wieder als Gewerbeflächen genutzt werden.
Die letzte große Baumaßnahme war die Errichtung des Shoppingcenters Eastgate. Als es 2005 fertig gestellt wurde, war es das größte Einkaufszentrum in Berlin-Brandenburg. Eisentraut lobt das Gebäude zwar für seine Funktionalität. Der Marzahner Promenade aber, die mit ihren Geschäften als »gesellschaftlicher Hauptbereich« des Stadtteils erdacht wurde, habe das Eastgate den Todesstoß versetzt, wie er sagt. Heute versucht der Bezirk, die Marzahner Promenade mit Kunst und Kultur zu revitalisieren. Dass sich die Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt verschärft hat, schlägt sich auch in Zuzügen nach Marzahn und Hellersdorf nieder. Die Leerstandsquote in Marzahn-Hellersdorf ist längst niedriger als in den westlichen Berliner Randbezirken Reinickendorf und Spandau.