Soziale Proteste in Bosnien-Herzegowina

»Nationalismus tötet«

Nach den Ausschreitungen im Februar organisieren sich Bürgerinnen und Bürger in verschiedenen Städten Bosnien-Herzegowinas in Versammlungen, die soziale Forderungen an die Politik stellen und den Rücktritt der Regierenden fordern. Die sozialen Proteste formieren sich zum ersten Mal über die ethnischen Grenzen hinweg.

Eine Autokolonne fährt über die Marschall-Tito-Straße, vorbei an der Ali-Pascha-Moschee bis zum Staatspräsidium von Bosnien-Herzegowina, wo die Wagen anhalten und ein Hupkonzert beginnen. Es ist ein zustimmendes Hupen für zwei Demonstranten, die sich vor dem Gebäude po­sitioniert haben mit Schildern, auf denen steht: »Gemeinsam gegen die Faschisten«, und: »Alle auf die Straße, wir fordern unsere Rechte ein«. Mit »Faschisten« sind nationalistische Politiker aus allen Bevölkerungsgruppen des Landes gemeint. Der Protest richtet sich gegen Armut, Massenarbeitslosigkeit, Korruption und den allgemeinen politischen Stillstand. Die Proteste begannen im Februar in verschiedenen Städten und waren teilweise auch gewalttätig (Jungle World 7/14 und 9/14). Trotzdem kamen sie bei der Bevölkerung offenbar gut an: Umfragen zeigen, dass acht von zehn Bosnierinnen und Bosniern die Proteste unterstützen. Im serbischen Landesteil, der Republika Srpska, haben sieben von zehn Befragten Verständnis für die Proteste.
Die Versuche serbischer Nationalisten, die ethnische Karte zu spielen und die Proteste in eine Verschwörung gegen die Existenz des autonomen serbischen Landesteils umzudeuten, sind gescheitert. Denn es handelt sich um einen Protest, der sich über die ethnischen Grenzen hinweg artikuliert, die die Politik des Landes schon immer bestimmt haben. Seit über zwei Monaten finden in Sarajevo täglich Kundgebungen vor dem Staatspräsidium von Bosnien-Herzegowina statt, auch wenn die Teilnehmerzahl zurückgegangen ist. Je nach Wochentag kommen zwischen 20 und 50 Personen, die meisten von ihnen sind Rentner, darunter auch Kriegsveteranen. Vereinzelt finden sich unter den Demonstrierenden jüngere Arbeitslose, Linke und Antifaschisten.
Vedran Svrdlin kommt seit dem 7. Februar täglich vor das Regierungsgebäude, um zu demons­trieren. Er empört sich über die Vetternwirtschaft und die soziale Situation in Sarajevo: »Ich selbst habe viereinhalb Jahre lang schwarz bei der Bank Intesa Sanpaolo gearbeitet, davon habe ich genau drei Monate lang mein vereinbartes Gehalt bekommen.« Es ist in Bosnien-Herzegowina üblich, dass Angestellte und Arbeiter in allen Bereichen illegal beschäftigt werden, auch in Berufen, bei denen dies woanders unvorstellbar wäre. Natürlich bezahlen die Arbeitgeber keine Lohnnebenkosten und die Angestellten haben kein Anrecht auf grundlegende Leistungen, beispielsweise in der Gesundheitsversorgung. Es ist schwierig, sich vorzustellen, dass die Filialen in Deutschland ihre Bankkaufleute schwarz beschäftigen, in Bosnien-Herzegowina indes ist das nicht ungewöhnlich. Warum arbeiten Menschen wie Vedran Svrdlin überhaupt weiter, wenn der Arbeitgeber sich nicht an die Abmachungen hält? »Die haben mich völlig ausgenommen, aber was hätte ich denn sonst tun sollen? Es ist nicht einfach, hier einen Job zu bekommen, und die Sozialleistungen sind lächerlich.«
Neben dem Staatspräsidium steht das Regierungsgebäude des Kantons Sarajevo. Einige der Fenster wurden herausgenommen, andere mit Spanplatten zugedeckt, ein großes Gerüst wurde vor dem Gebäude aufgebaut. Der Haupteingang ist mit Parolen vollgesprüht, Polizisten bewachen den Eingang, neben dem in großen Lettern »ACAB« geschrieben steht, für »All cops are bastards«. Man sieht dem Sitz der Kantonsregierung an, dass es hier noch vor kurzem, am 7. Februar dieses Jahres, gebrannt hat. Da sich in dem Gebäude auch das Archiv der Stadt Sarajevo befindet, wurden dabei bedeutsame historische Dokumente und Quellen vernichtet. Man kann diese Gewalt verurteilen, aber ohne brennende Gebäude hätte sich wohl niemand für den Protest interessiert, Medien hätten nicht darüber berichtet und Politiker wären nicht zurückgetreten.

Am 7. April fanden Streiks der kommunalen Verkehrsbetriebe statt. Hunderte Angestellte zogen vor das Präsidium, skandierten Parolen und pusteten in ihre Trillerpfeifen. Das kommunale Verkehrsunternehmen JKP GRAS Sarajevo steht mit den Gehältern in Verzug. Manche Arbeiter haben im laufenden Kalenderjahr noch gar kein Gehalt erhalten, für andere werden seit Jahren keine Lohnnebenkosten mehr bezahlt, weil sie illegal beschäftigt werden, und zwar von einem kommunalen Arbeitgeber. Auf dem größten Plakat fordern die Arbeiter ihre Kolleginnen und Kollegen dazu auf, sich nicht spalten zu lassen: »Wir werden hier doch alle ausgenommen, unabhängig davon, ob wir Bosniaken, Kroaten, Serben, Sozialisten oder Konservative sind«, sagt einer der Streikenden. In Bosnien-Herzegowina werden Stellen im öffentlichen Dienst – und in geringerem Maße auch in der Privatwirtschaft – meist nach Parteizugehörigkeit vergeben. Die Parteien vertreten weniger politische Programme als ihr eigenes Klientel.
»Über die Hälfte der Abmachungen wird von Seiten der Arbeitgeber nicht eingehalten«, empört sich der Gewerkschaftsleiter Adem Šerak. »Die Arbeiter sollen, wie überall auf der Welt, ihre Löhne erhalten, ein Recht auf Gesundheitsversorgung haben und in Würde in Rente gehen können.« Die Mindestrente in Bosnien-Herzegowina liegt bei 80 Euro im Monat, dabei sind die Lebensmittelpreise kaum geringer als in Deutschland. Dass die Menschen kein Geld für Brot haben, ist hier mehr als nur eine Metapher. Besonders beliebt scheint Adem Šerak bei den Arbeitern der Verkehrsbetriebe jedoch nicht zu sein. Als er eine Rede halten möchte, wird er von der Menge lautstark ausgebuht. Er setzt dreimal an, etwas zu sagen, bevor er die Proteste verlässt. »Na gut, ich werde den Wunsch der Arbeiterinnen und Arbeiter respektieren«, sagt er dann resigniert. Einer der Demonstranten erklärt die Abneigung gegenüber dem Gewerkschafter: »Der arbeitet doch nicht für uns, sondern für JKP GRAS.« Rifet Mah­mutović, Vorsitzender des unabhängigen Gewerkschaftsverbandes der Kommunalwirtschaft, kritisiert: »Das Hauptproblem bei den kommunalen Unternehmen ist, dass sie 2 000 Menschen schwarz beschäftigen. Diese Arbeiter erhalten, wenn überhaupt, nur ihr Gehalt, ohne dass Beiträge für sie bezahlt werden.« Wie glaubwürdig die Kampagnen zur Bekämpfung informeller Beschäftigung in einem Staat sind, in dem selbst die Kommunen Menschen illegal anstellen, kann man sich denken.
Die größten politischen Erfolge der Protestbewegung konnten bislang die Bürgerforen erzielen. Nach den militanten Protesten des 7. Februar formierten sich im ganzen Land sogenannte Plena, auf denen die Teilnehmer die Probleme und Zukunft des Landes diskutieren und konkrete Forderungen an die Politik stellen. Dutzende Plena mit teilweise tausend Teilnehmern haben bereits stattgefunden. Auf Druck dieser Bürgerversammlungen sind in Sarajevo, Tuzla, Zenica und Bihać – Hauptstädte von Kantonen mit einer deutlichen bosniakischen Bevölkerungsmehrheit – die Kantonsregierungen zurückgetreten. Zumindest in diesen Teilen Bosnien-Herzegowinas zeigt sich deutlich, wie es um die Akzeptanz und Legitimität der Regierungen.

Ihren Anfang nahmen die gewalttätigen Ausschreitungen Anfang Februar mit dem Protest von ehemals bei Staatsbetrieben beschäftigten Arbeitern aus der ostbosnischen Stadt Tuzla, die nach intransparenten und größtenteils illegalen Privatisierungen staatlicher Unternehmen ihre Arbeit verloren hatten. Manche waren vier Jahre lang nicht bezahlt worden, bevor sie entlassen wurden. Die Arbeiter zogen am 4. Februar vor das Gebäude der Kantonsregierung in Tuzla, um Löhne, Sozialleistungen und eine Rücknahme der Privatisierungen zu fordern. Der Sitz der Kantonsregierung war auch das erste Gebäude, das am 7. Februar in Flammen aufging.
Tuzla gilt als Stadt, in der ethnische Grenzen eine geringere Rolle spielen als anderswo in Bosnien-Herzegowina, und es ist kein Zufall, dass die Proteste ausgerechnet dort begannen. Hier regierte bis vor kurzem die sozialdemokratische SDP, die sich im Gegensatz zu den anderen großen Parteien nicht über ethnische Kategorien definiert. Bei den Plena gibt es regelmäßig Beiträge, die sich positiv auf die SDP beziehen beziehungsweise die Sozialdemokraten als das kleinere Übel ansehen. Meist gehen diese Beiträge allerdings in Buhrufen unter, die SDP ist unbeliebt, weil sie es weder geschafft hat, gegen die Korruption, die intransparenten Privatisierungen und die wirtschaftliche Misere im Land vorzugehen, noch ein Sozial- und Gesundheitssystem aufbauen konnte, das diesen Namen verdient. Schließlich scheiterten die Sozialdemokraten daran, in dem Kanton besser zu regieren als die ethnonationalistischen Parteien in anderen Teilen des Landes.
Den Arbeitern in Tuzla wurde vor Augen geführt, dass es völlig egal ist, wo sie alle zwei Jahre ihr Kreuzchen machen. Sie gingen auf die Straße, um gegen die Kantonsregierung zu demonstrieren, kurz darauf brannten Regierungsgebäude im gesamten Land. Die Proteste richten sich dabei nicht gegen bestimmte Parteien oder Personen, sondern sind Ausdruck einer allgemeinen Unzufriedenheit. Während man im restlichen Europa in den vergangenen Jahren über »Technokraten«-Regierungen geschimpft hat – etwa in den Krisenländern Griechenland und Italien –, ist ein regierendes Expertengremium genau das, was die Bürgerforen in Bosnien-Herzegowina fordern. In Tuzla hat sich eine neue Regierung formiert, deren Mitglieder entweder keiner Partei angehören oder ihre Mitgliedschaft derzeit ruhen lassen. Das ist die bislang beeindruckendste Entwicklung, die aus den Plena hervorgegangen ist.
Selbst der Innenminister Fahrudin Radončić äußerte Verständnis für die Ausschreitungen: »Das sind die Kinder von Eltern, die kein Geld für Brot haben.« Das sollte die Demonstranten zumindest stutzig machen. Radončić ist Gründer der Mediengruppe Avaz, des mit Abstand größten Medienimperiums des Landes. Die dort vertriebenen Medien gelten als konservativ, trotzdem berichteten sie verdächtig verständnisvoll über die Proteste. Dies hängt damit zusammen, dass Radončić das nächste bosniakische Mitglied im Staatspräsidium werden möchte und somit de facto der mächtigste Mann im Staat. Die Proteste sind populär und die Parteien versuchen inzwischen, sie für den Wahlkampf zu nutzen.

»Wir lassen uns nicht von Politikern instrumentalisieren. Die sind alle zusammen für diese Misere verantwortlich, es gibt keine Partei, der wir vertrauen«, sagt eine Frau bei ihrem Redebeitrag auf dem »Plenum der Plena«, wie die Bürgerversammlung in Sarajevo genannt worden ist. Am 9. April trafen sich hier Vertreter der Bürgerforen aus dem gesamten Land, um ihre Forderungen vor dem Regierungsgebäude der Föderation Bosniens und Herzegowinas, einer der beiden Entitäten des Staates, zu formulieren. Der strömende Regen an diesem Tag wirkt sich auf die Zahl der Teilnehmer aus. Es sind vielleicht 300 Menschen anwesend, die Transparente schwenken, auf denen Sätze stehen wie: »Meine Nationalität ist die Freiheit«. Auf einer Wand steht: »Tod dem Nationalismus«, ein paar Meter weiter liest man: »Gay is Okay«, ergänzt durch Aufkleber, auf denen Walter Benjamin abgebildet ist. Sehr vereinzelt sind Teilnehmer mit der Fahne Bosnien-Herzegowinas bei dem Plenum. Nach kurzen Redebeiträgen werden konkrete Forderungen formuliert. An erster Stelle steht die nach dem Rücktritt der Regierung der Föderation Bosnien-Herzegowinas.
Die andere Teilentität, die Republika Srpska, wird bei den Protesten überhaupt nicht erwähnt. Forderungen, die sich auf den Gesamtstaat beziehen, also den serbischen Landesteil miteinbeziehen, werden nicht gestellt, dabei ist es gerade der auf nationaler Zugehörigkeit basierende Klientelismus, der Bosnien-Herzegowina zu einem der ineffizientesten Staaten Europas macht. Doch die Serben im serbischen Landesteil beteiligen sich nicht an den Protesten und die Plena wollen sich nicht zum Vorwurf machen lassen, sie zwängen ihnen etwas auf. Die Bosniaken wünschen sich tendenziell eine Aufhebung des auf ethnischem Proporz beruhenden Wahlsystems, die Serben und Kroaten bestehen tendenziell auf dem Erhalt des ineffektiven und föderalen Systems, weil sie befürchten, sonst als Minderheiten ihre Interessen nicht mehr adäquat vertreten zu können und von den Bosniaken überstimmt zu werden. Noch immer prägen diese aus dem Krieg hervorgegangenen ethnischen Kategorien das politische Bewusstsein vieler Menschen in Bosnien-Herzegowina. Weitere Forderungen des »Plenums der Plena« sind die Rücknahme von Privatisierungen, eine Beschränkung von Politikergehältern und ein Ende der Praxis, Löhne von Politikern weiter zu bezahlen, wenn diese nicht mehr im Amt sind. Zudem soll nach Auffassung des Plenums in Zukunft auch Eigentum besteuert sowie die Steuer auf Grundnahrungsmittel abgeschafft werden.
Die Regierungsvertreter, an die die Forderungen gerichtet waren, befanden sich während des »Plenums der Plena« allerdings überhaupt nicht in dem Gebäude, sondern im herzegowinischen Mostar, um dort über die Bedingungen für die anstehenden Neuwahlen zu verhandeln. In Mostar blockieren sich die ethnonationalistischen Parteien der Kroaten und der Bosniaken gegenseitig und machen die Stadt somit unregierbar. Was einige der Bewohner der Stadt von den beiden Parteien halten, haben sie während der gewalttätigen Ausschreitungen Anfang Februar deutlich gemacht, als Büros der bosniakischen Partei der Demokratischen Aktion (SDA) und der kroatischen HDZ in Brand gesteckt wurden. Eine antifaschistische Aktivistin, die namentlich nicht genannt werden möchte, erläutert: »Die Situation ist wie folgt: Auf der einen Seite der Neretva (Fluss in Herzegowina, Anm. d. Red.) sind die bosniakischen Nationalisten und auf der anderen Seite die kro­atischen. Dazwischen stehen wir.« Ob sie denn glaube, dass die Proteste etwas ändern werden? »Manche behaupten, die jungen Menschen seien die Zukunft dieses Landes, aber gerade diejenigen, die den Krieg nicht mehr miterlebt haben, sind die größten Nationalisten. Dazu wurden sie hier schließlich erzogen. Die Proteste sind wichtig, aber sie werden nichts an den grundlegenden Problemen ändern.«
Antifaschistinnen in Mostar haben ein Graffito an eine Wand gesprüht, auf dem in drei Sprachen steht: »Nationalismus tötet«. Eine Anspielung darauf, dass es in Bosnien-Herzegowina gesetzlich verpflichtend ist, alles dreisprachig – bosnisch, kroatisch und serbisch – zu schreiben. Der einzige wirkliche Unterschied besteht darin, dass das Serbische in kyrillischen Buchstaben steht, während im Bosnischen und Kroatischen lateinische Schriftzeichen verwendet werden.
Welcher der antifaschistischen Hinweise nun Kroatisch und welcher Bosnisch ist, das weiß niemand – Hauptsache, dem Narzissmus der kleinen Unterschiede wird gehuldigt. Die Anspielung auf die drei Sprachen kommt auch bei den Protesten zum Ausdruck in der Parole, die immer wieder auf den Schildern geschrieben steht: »Wir sind hungrig in drei Sprachen.«