Die Reform der Pflegeversicherung

Es bleibt in der Familie

Die Große Koalition plant eine Reform der Pflegeversicherung.

Wenige sind im Alter so produktiv wie Rose Ausländer. In den letzten zehn Jahren ihres Lebens schrieb sie Hunderte von Gedichten – im Bett liegend im Düsseldorfer Nelly-Sachs-Altenheim. Nach einem Oberschenkelhalsbruch 1977 hat die deutsch- und englischsprachige Dichterin jüdischer Herkunft ihr Zimmer bis zu ihrem Tod 1988 nicht mehr verlassen. Wer die berührenden Gedichte aus dieser Phase liest, staunt über die schöpferische Kraft. Rose Ausländer starb mit 86 Jahren. Sie ist eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen. Viele Menschen verzweifeln in einer vergleichbaren Lage, viele fürchten die Pflegebedürftigkeit mehr als den Tod. Daran hat die vor 20 Jahren eingeführte gesetzliche Pflegeversicherung nichts geändert und daran wird auch die von der Großen Koalition vorgesehene Reform nichts ändern.

Rund 2,5 Millionen pflegebedürftige Menschen leben in Deutschland. Zwei Drittel von ihnen werden zu Hause versorgt. Die Angst vieler vorm Altenheim ist nicht unbegründet: Die berüchtigte Satt-und-Sauber-Pflege, bei der Senioren wie am Fließband abgefertigt und ansonsten sich selbst überlassen werden, ist Realität. Obwohl die Angestellten in den Heimen sehr schlecht verdienen, ist die Unterbringung dort extrem teuer – und abgesehen von wenigen Ausnahmen wird der körperliche und geistige Verfall mangels vernünftiger Förderung eher beschleunigt als aufgehalten. Doch zu Hause gepflegt zu werden, ist meistens nur möglich, indem jemand ausgebeutet wird. Das System lässt denen, die sich die schicke Seniorenresidenz oder einen Stab von tariflich bezahlten Hausangestellten nicht leisten können, keine andere Wahl. Immerhin 80 Prozent der 1,8 Millionen zu Hause lebenden Menschen mit Pflegebedarf werden von Angehörigen versorgt. Die Familie sei »der größte Pflegedienst der Nation«, stellt Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) fest. Ob der familiäre Pflegedienst gut ist, ist schwer auszumachen. Jedenfalls ist er günstig. Die Pflegeversicherung zahlt Angehörigen maximal rund 700 Euro für die Versorgung von Schwerstpflegebedürftigen zu Hause, weitaus weniger als die im Maximalfall 1 gewährten 918 Euro für die ambulante Leistung eines Pflegedienstes. Daran wird sich auch nichts ändern. Am Gründonnerstag hat das Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde von zwei Frauen abgewiesen, die nicht hinnehmen wollten, dass sie für die häusliche Pflege viel weniger bekommen als ein kommerzieller Anbieter. »Der Gesetzgeber darf davon ausgehen, dass die Entscheidung zur familiären Pflege nicht abhängig ist von der Höhe der Vergütung, die eine professionelle Pflegekraft für diese Leistung erhält«, so das Bundesverfassungsgericht. »Die gegenseitige Beistandspflicht von Familienangehörigen rechtfertigt es, das Pflegegeld in vergleichsweise niedrigerer Höhe zu gewähren.« Dieser Beistandspflicht kommen in aller Regel Frauen nach – als Tochter oder Schwiegertochter, als Ehepartnerin oder Lebensgefährtin, manchmal auch als Enkelin. Eine billige Pflegereserve. Auch Männer pflegen Angehörige, aber seltener, und sie bekommen dafür mehr Anerkennung – weil es nicht selbstverständlich ist.

Steht keine Frau aus der Familie zur Verfügung, wird gerne eine eingekauft: eine Polin für Oma oder Opa oder beide. Schätzungsweise 150 000 Frauen aus Osteuropa pflegen in deutschen Haushalten alte Leute. Sie arbeiten rund um die Uhr mit dem Anspruch auf einen freien Nachmittag in der Woche, meistens für unter 1 000 Euro im Monat. Meistens müssen die Pflegerinnen nach einem Monat den Arbeitsplatz wechseln, was den Betreuten nicht gefällt. Oft glauben Familien, sie tun etwas besonders Gutes, wenn sie die Frauen über eine Agentur buchen. Der zahlen sie um die 1 800 bis 2 000 Euro für die Illusion, ihre Bediensteten seien sozial abgesichert. Das sind sie nicht wirklich, denn in der Regel haben sie zum Beispiel nur eine Krankenversicherung für akute Erkrankungen, Rentenansprüche in Deutschland erwerben sie nicht. Würden die deutschen Familien ihre Pflegerinnen selbst anstellen, wäre das anders. Doch das, glauben sie, können sie sich nicht leisten. Als Norbert Blüm (CDU) 1994 die gesetzliche Pflegeversicherung eingeführt hat, war eines der wichtigsten Argumente, dass Ältere im Pflegefall nicht mehr aufs Sozialamt angewiesen sein sollten. Das hat nicht funktioniert, denn eine Vollzeitpflege im Heim ist mit den Leistungen aus der Pflegeversicherung nicht zu finanzieren. Nachbesserungen hat es in den vergangenen Jahren immer wieder gegeben. Demenzkranke zum Beispiel haben seit 2012 Anspruch auf Leistungen. Doch die Verbesserungen waren immer nur Stückwerk. Den allseits beschworenen »Pflegenotstand« – die wirklich schlimmen Bedingungen für Menschen mit Pflegebedarf und für die bei Pflegediensten und in Heimen Arbeitenden – konnten sie nicht beheben. Jetzt will die Große Koalition eine weitere Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung durchsetzen. »Verbesserungen in der Pflege sind ein Schwerpunkt dieser Bundesregierung«, beteuert Gröhe. Durch Beitragsanhebungen sollen fünf Milliarden Euro zusätzlich in die Pflegekassen fließen. Das Geld soll aber nicht vollständig für die bessere Versorgung ausgegeben werden. 1,2 Milliarden will Gröhe für die Pflege der Generation der »Baby-Boomer« in 20 Jahren in einem Fonds anlegen.

Statt der bisher drei Stufen, in die Pflegebedürftige nach mitunter als demütigend empfundenen Begutachtungen eingeteilt werden, und die für die monatliche Zahlung maßgeblich sind, soll es künftig fünf geben. Außerdem sollen geistige und psychische Beeinträchtigungen genauso berücksichtigt werden wie körperliche. Neben Demenz gehört die Depression zu den häufigsten Erkrankungen im Alter. Die Zahl der Betreuungskräfte in Heimen soll von 25 000 auf 45 000 steigen, damit auch die Fachkräfte entlastet werden. Doch der »Pflegenotstand« wird bleiben. Gröhes Konzept fehle »praktisch jeder Impuls für einen dringenden Umbau des Pflegesystems«, kritisiert Nordrhein-Westfalens Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne). Sie fordert eine grundlegende Reform mit neuen Rahmenbedingungen. »Der Kampf gegen den Pflegenotstand muss ­in den Köpfen anfangen«, sagt sie. Für so eine Bewusstseinsänderung kämpft die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO). Sie vertritt 111 Mitgliedsverbände und damit rund 13 Millionen ältere Menschen. »Kernforderung der Seniorenverbände ist, Würde und Selbstbestimmung sowie Selbständigkeit und Teilhabe von Pflegebedürftigen in den Vordergrund zu rücken«, schreibt die BAGSO. Ansätze dafür gibt es durchaus. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe und die Friedrich-Ebert-Stiftung zum Beispiel haben in einem gemeinsamen Positionspapier ihre Vorstellungen einer Pflegereform umrissen. Aber wer eine wirksame Reform der Pflege will, braucht eigentlich eine Revolution. Kein Wunder, dass auch Linke das Thema unter dem Stichwort »Care Revolution« entdeckt haben (siehe Disko-Seite 18). Gute Ideen gibt es genug - aber keine politischen Mehrheiten. Bis es die gibt, müssen einzelne Projekte zeigen, wie Pflege aussehen sollte. Das setzt aber voraus, dass diejenigen, um die es geht, nicht als bloßes Objekt von Fürsorge wahrgenommen werden. Nicht nur Pflegende, auch Menschen mit Pflegebedarf brauchen mehr Wertschätzung. Denen, die in einem Heimzimmer von der Welt abgeschottet auf den Tod warten, wird zu wenig Achtung entgegengebracht und zu wenig Gehör geschenkt. Kaum jemand schafft es wie einst Rose Ausländer, Botschaften aus dem Pflegeverlies in die Welt zu senden: »Ich bin/schon lange verschollen/doch/ich lebe immer noch/in einem/verlorenen Zimmer/und spiele/mit Worten/wie ein/törichtes Kind.«