Lobet den ­Kalten Krieg

Ständig ist nun wieder vom Kalten Krieg die Rede, und keiner mag ihn. Meist droht er oder er soll verhindert werden, gestritten wird nur darüber, wer die Schuld hat, wenn er kommt. Aber der Kalte Krieg hat eine etwas freundlichere Beurteilung verdient, denn er hatte seine Vorzüge. Zumindest für die Lohnabhängigen im Westen, denn damals konnte man damit rechnen, am Ende des Erwerbslebens ein mindestens dreimal so hohes Realeinkommen zu haben wie zu dessen Beginn. Faktoren wie stärkere Gewerkschaften und eine größere Renitenz der Lohnabhängigen spielten eine Rolle, aber zu den ungeschriebenen Gesetzen des damaligen Systemwettbewerbs gehörte es, dass es Arbeitern im Westen nicht schlechter gehen sollte als denen im Osten. Was aber bietet die EU nun den Ukrainern an? »Ihr werdet länger und härter für weniger Geld arbeiten, sofern ihr nicht entlassen werdet. Wenn es euch im Winter wegen der Streichung der Subventionen für die Heizkosten zu kalt wird, strickt Pullover. Denkt daran, dass Warmduscher im Leben noch nie weit gekommen sind. Wenn ihr brav seid, kommt irgendwann der Aufschwung. Unsere Ökonomen haben sich da noch nie geirrt.«
Der Systemwettbewerb war seit dem Ende des Kalten Krieges nur noch innerkapitalistische Konkurrenz. Es ging darum, möglichst billig zu produzieren. In diesem »Standortwettbewerb«, stellte der linker Umtriebe unverdächtige Ökonom Hans-Werner Sinn 2001 fest, »sind die Arbeitnehmer die Verlierer« und »ein sukzessiver Abbau des europäischen Sozialstaates ist die wahrscheinliche Folge«. Aus wirtschaftsliberaler Sicht handelt es sich um Vorgänge, die sich ebenso der Einflussnahme entziehen wie der Umlauf der Erde um die Sonne. Nun aber gibt Wladimir Putin dem Systemwettbewerb eine neue Note. Mit auskömmlichen Einnahmen aus dem Öl- und Gasverkauf muss er nicht um jeden Preis billiger produzieren. Er spricht nicht über schnöden Mammon, wenn es um die heilige Mission Russlands geht. Aber der Durchschnittslohn ist in Russland doppelt so hoch wie in der Ukraine. Das mag manchen dazu bewegen, die weiß-blau-rote statt der blau-gelben Fahne zu schwenken. Überdies steht Putin für ein Modell des Kapitalismus, in dem die Loyalität zum Chef noch etwas zählt und Unterwerfung belohnt wird. Während der Westen das Aldi-Prinzip propagiert, steht der russische Präsident für Manufactum. Er liebt sie noch, die guten alten Dinge wie Panzer und Patriarchat, und er lädt uns ein, sie auch wieder zu lieben. Die stählerne Härte der Sowjetbüro­kratie ohne das egalitäre Gewäsch vom Kommunismus auf der einen Seite, der unerbittliche Zwang zur Selbstoptimierung ohne Aussicht auf Belohnung auf der anderen – angesichts dieses neuen Systemwettbewerbs kann man nur konstatieren, dass das kapitalistische Glücksversprechen schon mal bessere Tage erlebt hat.