Nach der Räumung des Flüchtlingsprotestcamps in Berlin-Kreuzberg

The days after

Nach einem umstrittenen Deal mit Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) rissen einige Flüchtlinge unter dem Protest von Unterstützern und anderen Flüchtlingen die Hütten ihres Protestcamps auf dem Oranienplatz im Berliner Bezirk Kreuzberg, das seit Oktober 2012 bestand, in der vorigen Woche ab. Für die Situation der Flüchtlinge, die seither in einem ehemaligen Hostel in Friedrichshain untergebracht sind, interessierte sich die Öffentlichkeit kaum, stattdessen konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf die Baumbesetzung einer Flüchtlingsaktivistin.

Diplomatische Töne sind Napuli Langas Sache nicht. Das war auch nicht anders, als die wohl berühmteste Besetzerin des Oranienplatzes im Berliner Bezirk Kreuzberg im Dezember von der Uno eingeladen wurde. Die Botschafter wollten hören, was Langa über »Verantwortung für den Schutz der Rechte von Flüchtlingen« zu sagen hatte. »Ich bin die Enkelin von Sklaven«, rief Langa. »Den Kolonialismus aber gibt es noch immer, und wenn wir als Flüchtlinge hierher kommen, dann spalten sie uns, um uns zu kontrol­lieren.« Die neben ihr sitzenden Gesandten von Mexiko, Afghanistan und den Philippinen schauten mit großen Augen zu ihr auf.
17 Wochen später sitzt Langa auf einer Platane, dort, wo vor kurzem noch ihr Protestcamp gestanden hatte, und verkündet dieselbe Botschaft. Direkt nach der Räumung des seit Oktober 2012 besetzten Platzes war sie hinaufgeklettert, um weitere Gespräche mit Berlins Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) und den Wiederaufbau des Versammlungszeltes zu erzwingen. Kolat hatte mit einem Teil der Platzbesetzer eine umstrittenen Vertrag geschlossen und dabei die unterschiedlichen Interessengruppen unter den Flüchtlingen gezielt gegeneinander ausgespielt. Auf der Grundlage des Vertrags hatten einige der Flüchtlinge das Camp gegen den Willen der Übrigen am 7. April abgerissen – und waren dabei auch handgreiflich geworden. Abgerissen wurden dabei auch der Infopunkt und das Versammlungszelt, die laut der Einigung mit Kolat hätten stehenbleiben können.
In den folgenden Tagen herrschte allgemeine Katerstimmung in der Unterstützerszene. Lange hatten sie eine Räumung durch Wasserwerfer und Polizeihundertschaften befürchtet, doch im Vergleich zu dieser Möglichkeit war es schwieriger, mit der Tatsache umzugehen, dass ein Teil der Flüchtlinge sich eben zum Abriss des Protestcamps entschieden hatte. Während des Abrisses hatten Unterstützer mit wachsendem Entsetzen beobachtet, wie eine Gruppe der Flüchtlinge die Hütten unter Protest der anderen niederriss. Zuerst appellierten sie nur (»Ihr macht hier die Arbeit der Bullen«), am Ende gingen sie dazwischen – und wurden vom Abreißtrupp wütend angebrüllt: »Lasst uns arbeiten. Wir haben keinen Bock mehr, hier wie die Tiere leben zu müssen.« Der Senat schlachtete den Dissens sofort aus. »Unglaublich, wie Autonome und Aktivisten auf dem Oranienplatz Flüchtlinge aktiv an der fried­lichen Abbauarbeit ihrer Zelte verhindern«, twitterte Kolat.
Napuli Langas 107 Stunden währende Baumbesetzung jedoch bot der Szene die Gelegenheit, die Proteste gegen den Senat mit einem konsensfähigen Anliegen – »Unterstützung für Napuli« – fortzusetzen. Die bloße Klage »gegen die koloniale Art und Weise der Räumung«, wie sie auf einer Pressekonferenz am nächsten Tag geführt wurde, hätte kaum so viel Resonanz erzeugt, wie die »Frau auf dem Baum« (Bild). Deren Beharrlichkeit imponierte selbst der konservativen Presse derart, dass sogar Napulis Verlobter, Jura-Student Max Görlich, in der Bild-Zeitung Loblieder auf Langa anstimmen durfte: »Sie hat auf der Gitarre gespielt und ›Freude schöner Götterfunken‹ gesungen. Da hat es bei mir gefunkt.«

Kolat indes weigerte sich tagelang, sich auf dem Oranienplatz blicken zu lassen. Fast rund um die Uhr waren dagegen Unterstützer in der Nähe des von der Polizei abgeriegelten Baumes, fünf Flüchtlinge traten in Hungerstreik. Diesen hielten sie bis Redaktionsschluss am Dienstag durch und forderten unter anderem die Umwandlung der besetzten ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule, die der Senat ebenfall geräumt sehen will, in ein selbstorganisiertes politisches Zentrum für Flüchtlinge. Doch die Öffentlichkeit schaute vor allem auf Langa. Die Gruppe »Africavenir« rief dazu auf, »Nelken für die standhafte Napuli« zum Oranienplatz zu bringen, über Mailinglisten wurde diskutiert, welche Thrombosestrümpfe für sie aufgetrieben werden sollen. Langa hatte sich mit Decken in einer Astgabel in gut vier Metern Höhe eingerichtet. Die Polizei erlaubte nicht, dass sie zu essen oder zu trinken bekam, von Zeit zu Zeit reckte sie eine Faust in die Höhe und rief: »We will fight!« Die Unterstützer am Boden skandierten: »Napuli, Napuli«. Am Freitagabend hätte sie auf einer Veranstaltung in der Kreuzberger Passionskirche mit EU-Parlamentariern diskutieren sollen, eine Telefonschaltung untersagte die Polizei.
Am Samstagabend kletterte Langa vom Baum, nachdem die Polizei Anstalten gemacht hatte, sie mit Gewalt herunterzuholen. Die Einsatzleitung berief sich zur Begründung auf Ärzte, die Langas Gesundheitszustand allmählich als kritisch einstuften. Unterstützer verkündeten, dass das Versammlungszelt und der Infopunkt wieder aufgebaut werden könnten, und Kolat twitterte, sie sei »froh, dass nun auch mit Napuli der Dialog möglich und ihre Gesundheit nicht mehr gefährdet ist«. Am Dienstag bestätigte das Bezirksamt, dass es einen Infopunkt geben werde  – ein festes Gebäude, das größer sein werde als der derzeitige Container und über einen Wasseranschluss verfüge.

Über Tage galt fast die gesamte öffentliche Aufmerksamkeit der spektakulären Aktion Langas; auf jene, die den Oranienplatz verlassen mussten oder wollten, schaute kaum jemand. Dabei hatte diese Gruppe Probleme zuhauf. Die meisten sollten in ein ehemaliges Hostel im Stadtteil Friedrichshain ziehen – doch dort gab es nicht genügend Plätze. Statt der rund 85 Flüchtlinge erschienen nach der Platzräumung rund 150 im Hostel. Kolat gab Peter Sozialsenator Mario Czaja (CDU) die Schuld – der müsse Wohnplätze besorgen. Czaja erklärte daraufhin, Kolat sei »wohl überfordert«.
Wer nicht in das Hostel hineingelassen wurde, musste nicht nur privat bei Unterstützern unterkommen – sondern bekam auch nicht die 100 Euro, die Kolat als Soforthilfe zugesichert hatte. Dafür können jene wenigstens selbst ­entscheiden, wo sie ihre Tage zubringen. Ihre Mitstreiter im Hostel unterliegen hingegen einer Art Anwesenheitspflicht: Wer drei Tage fehlt, verliert seinen Schlafplatz.
Ein wohl noch größeres Problem dürfte die Flüchtlinge demnächst stärker beschäftigen als die Frage, ob ihr Info-Punkt nun ein hässlicher Metallcontainer oder ein Zelt ist, nämlich die Liste mit ihren Namen, die an den Senat übergeben wurde. Rund 470 Personen sollten darauf stehen – das war die Voraussetzung dafür, dass die ihnen gemachten Zusagen überhaupt erfüllt werden.

Doch die Liste ist offenbar ein totales Chaos. Die Flüchtlinge hatten lange diskutiert, ob sie sich wirklich namentlich erfassen lassen wollen. Der Senat könnte die preisgegebenen Identitäten schließlich auch benutzen, um sie leichter abzuschieben. Gleichwohl erstellte eine Gruppe um jenen Teil der Verhandlungsdelegation, die dem Deal mit Kolat zugestimmt hatte, die Liste. Doch viele Bewohner des Oranienplatzes stehen nicht darauf, Namen wurden getilgt, von Manipulation in den eigenen Reihen ist die Rede.
Auf dem Oranienplatz wird unterdessen grüner Rollrasen ausgelegt; in zwei Wochen wird auf dem Platz eine Rock-Bühne für das kommunale »Myfest« am 1. Mai errichtet, mit dem der Senat versucht, die Resonanz für die krawallträchtige 18-Uhr-Demonstration zu verringern. Ob ihm das in diesem Jahr gelingt, ist offen. Viele glauben, die Platzräumung werde die Militanz am 1. Mai steigern. Die Polizei verbreitet die gegenteilige Auffassung. »In Berlin fehlt der Szene die Reibungsfläche«, sagte ein Polizeibeamter dem Tagesspiegel. Auch der Oranienplatz sei »kein Reiz­thema mehr für die radikalere Szene«. Worauf der Beamte diese Einschätzung stützt, ist unklar. Am Freitag nach der Räumung zogen 500 Menschen unter dem Motto »Den Protest zu Henkel nach Hause tragen« durch Berlin-Weißensee. »Henkel vertreiben, Flüchtlinge bleiben«, skandierten sie. Zuvor hatten sie Innensenator Frank Henkel (CDU) gedroht: »Wir reißen dir die Hütte ab.« Bis zum 1. Mai dürfte der Oranienplatz nicht in Vergessenheit geraten sein.