Proteste von Textilarbeitern in Kambodscha

Gegen die Ohnmacht

Auf Massenproteste von Textilarbeiter­innen und -arbeitern, Gewerkschaften und der Opposition antwortet die kambodschanische Regierung mit Gewalt.

Kambodscha erlebt eine Protestwelle, die in dem autoritär geführten Land lange Zeit undenkbar schien. Zehntausende Textilarbeiterinnen und -arbeiter begehren seit Wochen auf und demons­trieren gegen Hungerlöhne. Sie wehren sich gegen den Preisdruck der internationalen Bekleidungsindustrie und die Ausbeutung durch die lokalen Subunternehmen. Und sie demonstrieren im Bündnis mit der politischen Opposition. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Ministerpräsident Hun Sen Protesten gegenübersieht, nun lässt er die Armee gegen diese für ihn gefährliche Allianz vorgehen.
Internationale Marken wie H & M und Levi Strauss lassen in Kambodscha fertigen, vor allem wegen der billigen Arbeitskraft. Kontrollen durch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die mit dem Programm Better Factories Cambodia die Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken verbessern möchte, blieben wirkungslos. In den vergangenen Jahren verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen, die Arbeitsschutzstandards und die Gesundheitsversorgung weiter. Massenhafte Ohnmachtsanfälle durch schlechte Belüftung und extreme Arbeitszeiten waren nur der deutlichste Ausdruck davon.
In dem kleinen südostasiatischen Land sind über 650 000 Menschen, vor allem junge Frauen, in etwa 800 Bekleidungs- und Schuhfabriken tätig. Die Textilbranche ist der größte Exporteur des Landes, mit einem Jahresumsatz von über fünf Milliarden US-Dollar und einem Zuwachs von 22 Prozent im Vergleich zu 2012. Hauptabnehmer der Textilprodukte sind die USA und Europa.

Angesichts der niedrigen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen bleibt den informellen Zuarbeiterinnen und Zuarbeitern der Märkte nur eines: Streik. Kambodschas Textilindustrie erlebte 2013 so viele Streiks wie nie zuvor, über 130 zählte der Verband der kambodschanischen Textilhersteller. Die Situation ist so alarmierend, dass im Oktober 2013 Karl-Johan Persson, CEO von H & M, das Gespräch mit Hun Sen suchte. Der schwedische Bekleidungsgigant war im vergangenen Jahr im eigenen Land wegen schlechter Arbeitsbedingungen in seinen kambodschanischen Zulieferfabriken heftig kritisiert worden. Persson forderte die Regierung auf, die Entwicklung des Lohnniveaus zu beobachten und auch die Inflation bei der Festlegung des Mindestlohns zu berücksichtigen. Zur gleichen Zeit demonstrierten 1 000 Arbeiterinnen und Arbeiter von SL Garment Processing, das auch für H & M produziert, gegen die Entlassung von Gewerkschaftern und bewaffnete Patrouillen in ihrer Fabrik. Die Demonstrationen waren aber nur das Vorspiel für das, was kommen sollte.
Am 24. Dezember gab das Arbeitsministerium bekannt, es werde den Mindestlohn von 80 US-Dollar um nur 19 Prozent statt der von Gewerkschaften und Beschäftigten geforderten 100 Prozent erhöhen. Die Gewerkschaften antworteten mit einem landesweiten Streikaufruf, Zehntausende legten ihre Arbeit nieder. Auch die nachträgliche Erhöhung des Regierungsangebots um fünf US-Dollar hielt die Streikenden nicht auf. Der Verband der kambodschanischen Textilhersteller wies daraufhin alle Fabriken an, aus Sicherheitsgründen ihre Tore zu schließen und die Arbeit ruhen zu lassen. Kambodschas Textilindustrie war lahmgelegt.
Trotz aller Warnungen wurden die Proteste stärker zu, die Demonstrierenden marschierten vor das Arbeitsministerium und hielten Zettel mit der Zahl 160 hoch. Ihre Forderung: ein die Existenz sichernder monatlicher Mindestlohn von 160 US-Dollar. Die Regierung bot eine Erhöhung auf 100 US-Dollar an. Das Existenzminimum in Kambodscha liegt jedoch bei 150 US-Dollar, ein Lohn, der für die Näherinnen und Näher auch mit Wochenendarbeit und Überstunden bis in die Nacht unerreichbar bleibt. Eine Studie des US-amerikanischen Worker Rights Consortium stellte zudem fest, dass die Reallöhne in den vergangenen zehn Jahren erheblich gesunken sind und nominale Erhöhungen in keiner Weise die Inflation ausglichen. Anders in den Nachbarländern Vietnam, Indonesien und China, dort stiegen die Reallöhne.
Um die Akzeptanz für Billiglöhne aufrechtzuerhalten, werden Arbeiterinnen und Arbeitern qualifizierte Fertigkeiten und Leistungen aberkannt. Billige Arbeit kann auf Dauer nur in autoritär-paternalistischen Ausbeutungsverhältnissen billig bleiben. Ein Selbstbewusstsein der working poor, ihre Kooperation und Organisation wären hinderlich für die Aufrechterhaltung des Systems der Dumpinglöhne.

Die Proteste begannen zu einem für die kambodschanische Regierung ungünstigen Zeitpunkt. Am zweiten Tag der Proteste hatten sich Zehntausende Textilarbeiterinnen und -arbeiter der Oppositionsbewegung angeschlossen. Die nach den Wahlen im Juli 2013 deutlich gestärkte Oppositionspartei Cambodia National Rescue Party (CNRP) wirft der regierenden Cambodian People’s Party (CPP) Wahlbetrug vor und fordert Neuwahlen, sollte Hun Sen nicht einer unabhängigen Prüfung der Wahlergebnisse zustimmen. Er bestimmt seit 29 Jahren die Geschicke des Landes maßgeblich und putschte sich mit militärischer Unterstützung 1997 endgültig an die Spitze. Die CNRP unter der Führung von Sam Rainsy, dem erst kurz vor den Wahlen aus dem Exil zurückgekehrten ehema­ligen Finanzminister, sieht sich um den Sieg betrogen und begann im Dezember mit einer Reihe von Protesten. Tägliche Demonstrationen brachten Tausende auf die Straßen. Die Massen aus den Fabriken heizten die Proteste weiter an. Rainsy hatte die Forderung der Gewerkschaften nach 160 US-Dollar Mindestlohn aufgegriffen und zu seinem Wahlversprechen gemacht, sicherlich ein wesentlicher Grund für den deutlichen Stimmenzuwachs. Am 29. Dezember marschierten in der bislang größten Demonstration Zehntausende Regierungsgegner in einem kilometerlangen Protestzug durch die Straßen der Hauptstadt Phnom Penh.
1996 erlebte das Land bereits ähnliche Arbeitskämpfe der Textilarbeiterinnen und -arbeiter, die mit der Einführung des Arbeitsrechts und der Entstehung neuer Gewerkschaften einen zumindest zeitweiligen Sieg errangen. Rainsy wurde für einige der Gewerkschaften ein neuer Verbündeter. Als er im März 1997, nur zwei Wochen nach der Implementierung des neuen Arbeitsgesetzes, eine Gewerkschaftsdemonstration anführte, um für Arbeiterrechte und gegen das Allgemeine Präferenzsystem, durch das die Europäische Union bestimmte Produkte von Zöllen befreit, zu demonstrieren, explodierten Granaten mitten in der Menge und töteten 20 Menschen. Zwar wurden die Verantwortlichen nie gefasst, doch galt Hun Sen als Drahtzieher des Anschlags. Dies markierte das Ende der gerade im Entstehen begriffenen Arbeiterbewegung. Nach dem Militärputsch von Hun Sen zwei Monate später wurden Gewerkschaften, die nicht mit seiner Partei konform gingen, aufgelöst oder in die Illegalität getrieben, Kritiker und Oppositionelle systematisch verfolgt, auf offener Straße getötet, inhaftiert oder ins Exil gejagt. Das von den Streikenden errungene Arbeitsrecht bestand nur noch auf dem Papier.

Hun Sen kontrolliert sämtliche Schlüsselbereiche des Landes, Medien, Polizei, Armee und die Judikative. So fiel es ihm nicht schwer, mit dem ganzen Arsenal an staatlichen Repressionsmechanismen gegen die neu entfachten Proteste vorzugehen. Zuerst drohte die Regierung den Gewerkschaften mit Klagen, sollten diese weiterhin zum Streik aufrufen, und stellte den Demonstrierenden ein Ultimatum. Als dieses am 2. Januar verstrich und die Arbeit nicht wieder aufgenommen wurde, begann die Regierung eine Offensive, mit der offenbar sowohl die Protestbewegung der Textilarbeiterinnen und -arbeiter als auch die Opposition zerschlagen werden soll. Mit Metallschlagstöcken, Messern und AK-47-Gewehren gingen über 100 Soldaten eines Sonderkommandos gegen Demonstrierende der Yak Jin Fabrik in Phnom­ Penh vor, zehn Menschen wurden verhaftet, zahlreiche verletzt. Am Tag darauf errichteten Hunderte Demonstrierende Straßensperren auf dem Veng Sreng Boulevard in Phnom Penhs Industriegebiet, der wichtigsten Verkehrsverbindung mit dem für den Export bedeutenden Hafen im Süden. Zunächst flogen Steine, dann Kugeln durch die Luft. Die Militärpolizei schoss direkt in die protestierende Menge, tötete mindestens fünf Menschen und verletzte Dutzende. Kambodscha erlebte den schwersten Ausbruch staatlicher Gewalt gegen die Zivilbevölkerung seit 1997. Am Folgetag marschierten mit Schilden, Metallschlagstöcken und Äxten bewaffnete Sicherheitskommandos in den Freedom Park ein, wo die Opposition ihr Protestcamp errichtet hatte, Hunderte Demonstrierende flohen. Die für den 5. Januar geplante Massendemonstration wurde wegen dieses brutalen Vorgehens des Staates ab­gesagt.
In Kambodscha der Masse der Armen eine kleine reiche Oberschicht gegenüber. Hungerlöhne bei acht Prozent Wirtschaftswachstum und der Ausschluss großer Bevölkerungsteile vom Zugang zu Ressourcen und sozialer Anerkennung sind Ausdruck eines zerstörerischen, auf Profit ausgerichteten Systems. Während einerseits immer mehr Menschen in diesen Prozess integriert werden, wird andererseits lebendige Arbeit durch Rationalisierung und Technologisierung überflüssig gemacht. Der Verband der kambodschanischen Textilhersteller warnte vor einem Rückgang der Aufträge, sollte der Forderung nach einer Verdopplung des Mindestlohns nachgegeben werden. Und die Befürchtungen sind nicht aus der Luft gegriffen, H & M schaut sich bereits nach neuen Produktionsstandorten in Nordafrika und Südamerika um.
Dennoch waren die Ereignisse der vergangenen Wochen so etwas wie ein Weckruf für die unter der autoritären Herrschaft von Hun Sen entmündigte kambodschanische Gesellschaft. Die Größe und Ausdauer dieser Proteste und die Kooperation zwischen Textilarbeiterinnen und -arbeitern und der Opposition brachte den tief sitzenden Unmut der Menschen gegenüber Hun Sen zu Tage. Die Textilarbeiterinnen und -arbeiter sind zu einer ernst zu nehmenden politischen Kraft geworden.