Tourismus und Gentrifizierung in Rio de Janeiro

Favela mit Ausblick

Die brasilianische Regierung will Rio de Janeiro für Touristen attraktiver machen. Neben der »Befriedung« der Favelas sind in den Armenvierteln mehrere teure Seilbahn-Projekte geplant. Die Bewohner haben jedoch andere Prioritäten.

Der Junge trägt bloß eine kurze Hose und Flipflops. Er ist vielleicht sieben Jahre alt und sieht etwas verwahrlost aus. An seiner Schulter hängt eine einfache Kühlbox aus Styropor. »Quer água? Do you like some water?«, fragt er. Es ist Montagmorgen, sollte er nicht eigentlich in der Schule sein? Wasser gibt es auch an einem kleinen Stand nebenan, den ein freundlich wirkender Mann betreibt. Hier sind auch Tische, Stühle und Sonnenschirme, die Schatten versprechen. Es ist noch nicht mal zehn Uhr, aber die Sonne brennt schon gnadenlos in Palmeiras, an der Endstation der Seilbahn des Complexo do Alemão im Norden von Rio de Janeiro. Die Seilbahn wurde vor gut zwei Jahren eingeweiht, sie hat sechs Stationen, 3,5 Kilometer führt sie durch eines der größten Wohngebiete der Stadt: Complexo do Alemão, übersetzt heißt das »der Komplex des Deutschen«. Zu diesem Wohngebiet gehören rund ein Dutzend Favelas, verteilt über fünf Hügel, 70 000 Menschen leben hier offiziell, das ergab zumindest der Zensus im Jahr 2010, aber die meisten Bewohner sagen, in Wirklichkeit seien es mehr als 150 000. Mit Fakten ist das so eine Sache in dieser Stadt, viele misstrauen den offiziellen Stellen ebenso wie den Medien, und dann bleibt nicht viel außer Gerüchten. Die Regierung wolle die Einwohnerzahlen bewusst klein halten, meinen einige, um die Statistiken zu schönen, etwa hinsichtlich dessen, wie viele Schulen oder Krankenhäuser pro Einwohner es gibt.
Die Gondeln der Seilbahn sind an diesem Morgen alle noch leer, die Touristen sind noch nicht da, aber später werden sie in Scharen kommen: Die Seilbahn ist eine der meistbesuchten touristischen Attraktionen von Rio de Janeiro geworden. 2 000 Besucher kommen durchschnittlich pro Tag, am Wochenende sind es sogar 3 500. Sie kommen, um in einer Gondel zu fahren, den Ausblick zu genießen, Fotos von dem schier endlosen Häusermeer zu machen, das sich unter den Hügeln erstreckt, bis zum internationalen Flughafen, zur Bucht von Rio und zum Cristo Redentor, der berühmten Christusstatue, die, wie die Leute hier manchmal sagen, dem Complexo do Alemão den Rücken zukehrt.
Jetzt sind die Stände mit Essen und Souvenirs noch leer, viele der Verkäufer sind auch noch nicht da, es weht kaum Wind, nur das Surren der Seilbahn ist zu hören. Lediglich die Polizisten von der Unidade de polÍcia pacificadora Fazendinha (UPP), der »Befriedungspolizei«, sind bereits auf ihren Posten und laufen mit ihren großen Sturmgewehren und Handfeuerwaffen über den Platz vor der imposanten Polizeistation.
Der junge Wasserverkäufer ist gelangweit: »Warum hast du das Wasser nicht bei mir gekauft?« fragt er vorwurfsvoll und setzt sich an den Tisch. Er sagt, er sei elf Jahre alt. »Heute morgen habe ich keine Schule, sondern erst am Nachmittag«, erzählt er, und außerdem, schreiben könne er auch schon. Auf die Frage, was er mal werden wolle, sagt er keck: »Wasserverkäufer«. Ob er nicht etwas anderes werden wolle, Polizist, vielleicht? Da wird er plötzlich sehr ernst: »Nein!«

Vor nur drei Jahren existierte die Polizei im Complexo do Alemão einfach nicht. Das Gebiet war in zwei Zonen geteilt, die von zwei berüchtigten Gangsterbanden kontrolliert wurden: In einer herrschte das »Comando Vermelho« (CV) und in der anderen das »Terceiro Comando« (TC). Beide comandos finanzierten sich durch Drogenhandel, ihre Operationsbasen und Rückzugsgebiete hatten sie in verschiedenen Favelas der Stadt. In den vergangenen zehn Jahren vermehrten sich die Kämpfe zwischen den Banden um die Eroberung von Einflusszonen in der Stadt. In Complexo do Alemão kam es so weit, dass man nicht mehr von einem Ganggebiet in das andere gehen konnte, es wurde sogar eine Art Mauer errichtet, die das Viertel teilte. Manchmal starben hier Menschen bei dem Versuch, die Mauer zu überqueren weshalb die Leute auch von einer »Berliner Mauer« sprachen. Von Zeit zu Zeit kam die Polizei, mit Hunderten schwer bewaffneter Polizisten und Panzern. Sie blieben nur kurz, ihre Attacken waren in der Regel Strafaktionen, oft als Vergeltung für ermordete Polizisten. Viele Unbeteiligte, darunter Kinder, starben im Kreuzfeuer, und die UN rügte die brasilianische Regierung für das Eskalieren der Gewalt in den Favelas.
Seit einigen Jahren hat der brasilianische Staat seine Strategie im Umgang mit der Straßengewalt geändert, »nachhaltige Befriedung« der Favelas nennt sich das. Im Complexo do Alemão, das die UN noch 2009 als »mittelschweres Bürgerkriegsgebiet« bezeichnete, marschierte im Herbst 2010 die berüchtigte Spezialeinheit Batalhão de Operações Policiais Especiais, kurz BOPE, die der Film »Tropa de Elite« (2007) bekannt gemacht hat, gemeinsam mit dem Militär ein.
Den Anlass lieferten schon damals die beiden Großevents, die in den kommenden zwei Jahren anstehen: die Fußball-WM 2014 und die olympischen Spiele 2016. Für sie sollte die Stadt »sicher« gemacht werden. Rio de Janeiro hat dafür seit einiger Zeit auch das nötige Geld, was mit dem Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahre zusammenhängt und mit den neuen Ölfunden vor der Küste der Stadt, die Kapital in die Metropole gebracht haben. Das alles wurde politisch besiegelt durch einen Pakt zwischen sozialdemokratischen und wirtschaftsliberalen Kräften, also zwischen der Arbeiterpartei (PT) von Präsidentin Dilma Rousseff und der Partei demokratischer Bewegung (PMDB) von Sérgio Cabral, dem Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro. Um das Land voranzubringen, wurde die Befriedung der Favelas von Rio beschlossen. Zur Finanzierung der »Befriedungspolizei« UPP steuerte auch der Multimillionär Eike Batista einige Millionen bei.
Der Pakt der Politiker ist einer der Gründe dafür, dass viele Brasilianer seit dem Sommer protestieren. Für sie verdeutlicht er die Korruption der politischen Klasse, die sich über Parteigrenzen hinweg Pfründe sichert und sich nicht einmal mehr den Anschein von politischer Pluralität zu geben versucht. Und vom wirtschaftlichen Aufschwung ist auch nicht mehr viel übrig. Batista, dessen Geschäfte zuletzt eher schlecht liefen, zog sich im Sommer aus der Finanzierung der UPP zurück.

In Palmeiras sind inzwischen einige Touristen angekommen, und der Junge versucht, ihnen Wasser anzudrehen. Es klappt gut, alle klopfen ihm auf die Schulter, wollen ihm ein Eis kaufen. Sonst besuchen bloß gringos, wie man hier internationale Touristen nennt, die Favelas, doch im Complexo do Alemão ist das anders. Viele, die hierher kommen, stammen aus anderen Regionen Brasiliens oder aus den »besseren« Vierteln von Rio. Sie gehören zur wachsenden brasilianischen Mittelklasse, die gerne Urlaub macht. Die Seilbahn ist populär.
Viele Brasilianer haben seit dem Sommer außerdem einen neuen Eindruck des Favela-Komplexes bekommen, nachdem die Telenovela »Salve Jorge«, die im Complexo do Alemão spielt, im Fernsehen lief. Darin wird dem Fernsehpublikum das Leben der Favela-Bewohner jenseits der üblichen Gewaltmeldungen nähergebracht. Allerdings ist die Handlung von sozialem Realismus weit entfernt: Da verliebt sich ein Kommandant der UPP in eine junge, hübsche Frau aus der Favela, und obwohl die beiden sich wirklich, wirklich lieben, müssen sie eine Reihe von Schwierigkeiten überwinden, bevor sie endgültig zueinanderfinden können. Die schnulzige Geschichte entspricht der allgemeinen Tonlage brasilianischer Tele­novelas, das Besondere ist hier jedoch die Inszenierung der Ideologie der Befriedung als paternalistischer Liebesakt zwischen Staat und Favela.
Im wirklichen Leben ist die Stimmungslage zwischen den Bewohnern der Favelas und der UPP sehr angespannt, nicht nur im Complexo do Alemão. Es herrscht ein schwelender Konflikt zwischen der Polizei und den Banden, die in den größeren Favelas immer wieder UPP-Stationen angreifen. In diesem Jahr sind bereits zwei Polizisten gestorben. Die Reaktion der Polizei ist nicht weniger gewaltsam als die der Gangster, sie ignoriert Unschuldsvermutung und Rechtsstaatlichkeit. Mehrere Beamte und Offiziere der UPP stehen derzeit unter Anklage, sie sollen im Juli einen Mann aus Rocinha in Gewahrsam gefoltert und getötet haben. Bei einer Demonstration in der Favela Mare erschoss die Polizei im Sommer neun Demonstranten, angeblich in Selbstverteidigung. Amnesty International zufolge sind in der ersten Hälfte dieses Jahres im Staat Rio de Janeiro knapp 300 Menschen durch Polizeigewalt ums Leben gekommen.
Andre ist Touristenführer und wohnt seit 1985 im Complexo do Alemão. »Die brasilianischen Besucher wollen oft wissen, wo bestimmte Schlüsselszenen der Telenovela spielen«, erzählt er. »Doch ein Großteil der Folgen wurde im Studio gedreht, echte Locations gibt es nicht viele.« Andre würde gerne mehr von der Favela zeigen, »aber die meisten kommen nur für die Seilbahnfahrt und den Ausblick«. Dann erzählt er ihnen die kurze Geschichte von dem Mann aus Polen, der Anfang des 20. Jahrhunderts ein großes Stück Land rund um einen der Hügel hier kaufte. Wegen seiner weißen Hautfarbe wurde er alemão, der Deutsche genannt. Dann kamen die Migranten aus dem armen Hinterland, auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben in die Stadt und siedelten sich hier an. »Viele Touristen kommen auch alleine hierher und verzichten auf eine Führung«, erzählt Andre. Palmeiras bietet umfangreiche touristische Unterhaltung und ist inzwischen lebhaft geworden: Jahrmarktstimmung breitet sich aus, es wird Musik gespielt, die ersten Bierflaschen werden geöffnet, Fotos werden gemacht nicht nur vom Ausblick, sondern auch von den schwer bewaffneten Polizisten an der neuen Polizeista­tion, die nichts dagegen haben, mit den Touristen zu posieren.
Andre hat auch eine lange Tour im Angebot, mit einer Wanderung von einer Station zu anderen. Es geht von Palmeiras nach Itararé auf dem benachbarten Hügel. Dazu muss man zunächst vom Hügel eine steile Straße hinuntergehen. Andre erzählt, dass die offiziellen Namen der Stationen nicht mit den lokalen Namen korrespondierten: »Itararé zum Beispiel nennen die Einwohner hier Alvorada. Palmeiras heißt eigentlich Inferno Verde.« Bereits wenige Schritte den Hügel hinunter sind keine Touristen mehr zu sehen. Neben kleinen Werkstätten gibt es jede Menge Obst- und Gemüseläden, Bäckereien und Bars, aus denen laute Musik dröhnt. Dazwischen ziehen immer wieder Gruppen von Polizisten der UPP vorbei. Sie vermitteln den Eindruck, nervös zu sein, und mit ihren automatischen Gewehren und gezückten Pistolen wirken sie wie Soldaten einer Besatzungsmacht. Fotos, so viel ist sicher, will hier keiner mit ihnen machen. An einer Mauer ist »CV«, die Abkürzung für Comando Vermelho, in rot gesprüht. Darüber hat jemand »azul« (blau) geschrieben. Blau ist die Farbe der UPP, die als »blaues Kommando« den Gangs gleichgesetzt wird.
Doch das Misstrauen gegenüber der UPP hängt nicht nur mit deren martialischem Auftreten zusammen. Die Gangs sind längst nicht aus den Favelas verschwunden und beobachten sehr genau, wie sich die Bewohner gegenüber der UPP verhalten, was ein Klima der Einschüchterung erzeugt. Viele Bewohner vermuten, dass, sobald die internationalen Spiele vorüber sind, der brasilianische Staat rasch sein Interesse an einer dauerhaften Befriedung der Favelas verlieren wird, da der Prozess zu langwierig, komplex und teuer werden könnte. Dann würden die Gangs zurückkommen, und keiner will dann erklären müssen, warum er mit der UPP kooperiert hat.
In luftiger Höhe ziehen die Gondeln der Seilbahn vorüber. Die Baumeister und die Betreiber der Seilbahn legen viel Wert darauf, dass es sich um ein soziales Projekt handelt. Das Geld stammt aus dem »Programm zur Beschleunigung des Wachstums«, das von der Regierung am Höhepunkt der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 aufgelegt wurde. Die Idee stammt aus Medellín in Kolumbien, dort verbindet eine Seilbahn die Armenviertel mit der Innenstadt. Auch hier soll die Seilbahn die Mobilität der Anwohner erleichtern und Touristen in die zuvor isolierten Gebiete locken. Die Bahn verbindet die fünf Hügel der Favela mit einer S-Bahnstation. Als Favela-Anwohner bekommt man zwei Fahrten pro Tag kostenlos. Dazu muss man sich anmelden, das haben nach Angaben der Betreiberfirma bisher 20 000 Menschen gemacht. Das wäre fast ein Drittel der Bevölkerung dort, wenn man den offiziellen Zahlen vertraut. Bewohner von außerhalb der Favela zahlen einen Réal (40 Cent) für die einfache Fahrt. Touristen und andere Besucher zahlen fünf Réal. Jeden Tag transportiert die Bahn im Durchschnitt 12 000 Menschen, etwa die Hälfte der Kapazität der Anlage. Die Statistiken der Betreiberfirma besagen auch, dass an Wochenenden bis zu 60 Prozent der Seilbahnnutzer die teuersten Tickets kaufen, in der Woche sind es immerhin 30 Prozent.
Die Bahn wird von der Regierung als voller Erfolg gewertet. Derweil sind zwei weitere Seilbahnen geplant. Fast fertig, allerdings äußert kontrovers ist die Seilbahn in Providencia, der ältesten Favela Rios. Über das zweite Projekt wird derzeit noch heftig gestritten. Die Seilbahn soll in Rocinha gebaut werden, der größten von Rios Favelas und der vielleicht bekanntesten. Die Seilbahn soll auch dort neue Mobilität schaffen, die Armen an die Stadt anbinden und ihnen den Transport erleichtern. Doch die Anwohnerverbände und Bürgerinitiativen glauben das nicht: Sie wollen die Bahn nicht, sie sagen, in der Favela gebe es andere Prioritäten. Gouverneur Cabral wird nachgesagt, ihm sei das völlig egal. Er wolle noch eine Seilbahn bekommen, so bald wie möglich, am Besten noch vor der WM. Die Bewohner von Rocinha klagen, es werde über ihre Köpfe hinweg geplant, für Prestigeobjekte und für Touristen.