In Ägypten sind die Muslimbrüder inzwischen marginalisiert

Die Ausfahrt verpasst

Wochenlang protestierten die Muslimbrüder in Ägypten mit Massenkundgebungen gegen die Entmachtung der Organisation und ihres Präsidenten Mohammed Mursi. Politisch, medial und gesellschaftlich marginalisiert, beharrten sie bis vor kurzem auf unerfüllbaren Maximalforderungen.

Es klang fast mitleiderregend trotzig, als Kheirat al-Shater, Multimillionär und graue Eminenz der ägyptischen Muslimbruderschaft, eine Verhandlungsdelegation von Diplomaten aus den USA, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten abwies: Ansprechpartner sei Mohammed Mursi, »der legitime, gewählte Präsident«. Shater befindet sich wie Mursi und ein dutzend andere Führungskader der Organisation seit der Entmachtung der islamistischen Legislative und Exekutive in Haft, einer Entmachtung, die wie schon der Sturz Hosni Mubaraks entgegen den Aussagen der meisten westlichen Kommentatoren weder einem Putsch noch einer Revolution gleichkommt.
Die »Legitimität« ihres Präsidenten und damit indirekt des islamistischen Projekts insgesamt ist dabei das Mantra, das die Sprecher der Muslimbruderschaft gegenüber ausländischen Diplomaten und Medienvertretern pausenlos wiederholen – ebenso wie die Redner und Aufheizer vor Zehntausenden ihrer Anhänger. Doch wenn die Legitimität »vom Volke« kommt, wie in der Tradition jakobinischen Denkens auch von den konservativen Islamisten der Bruderschaft stetig betont wird, so war ihre Herrschaft tatsächlich ille­gitim. Denn während sie es zwar schafften, landesweit maximal eine Million ihrer Mitglieder und Anhänger zu Demonstrationen für den Präsidenten aufzurufen, waren in den letzten Tagen des Juni zwischen sechs und zehn Millionen Ägypter gegen ihn auf die Straße gegangen.
Und so berufen sich auch die Opposition und die Militärführung durchaus zu Recht auf die populäre »Legitimität« – der oberste General Abd al-Fattah al-Sisi rief sogar zu Demonstrationen auf, die ihm persönlich ein »Mandat« zur Terrorbekämpfung geben sollten. Dass Staatsmedien daraufhin aberwitzige Angaben des Militärs verbreiteten, wonach 30 Millionen Ägypter ihm dieses Mandat auf den Straßen gegeben hätten, verweist auf die Virulenz der modernen identitätslogischen Vorstellungen von Volk und volonté générale (allgemeinem Willen) im ägyptischen Diskurs.
Sie stehen auch im Zentrum der Ideologie der Muslimbrüder und sind mitursächlich für deren politisches Scheitern. Denn entgegen ihrer Versicherungen und Versprechen gegenüber der ägyptischen Opposition hatten sie nach dem Sturz Mubaraks und dem Sieg bei den Parlamentswahlen erst einen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt, dann Frauen, Christen, Gewerkschaften und Künstler, Säkulare und Liberale marginalisiert und schließlich gegen deren Willen eine autoritäre islamistische Verfassung durchgesetzt – immer unter Berufung auf ihr »populäres Mandat« und ihre Aufgabe, den authentischen Willen des ägyptischen Volkes duchzusetzen. Unfähig, Kompromisse einzugehen, brachten sie so bedeutende Teile der Bevölkerung gegen sich auf, verloren auch die salafistisch-islamistischen Koalitionspartner und vernachlässigten die soziale Frage. So konnten die Opposition und bald auch das geschickt taktierende Militär die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ausnutzen und die Muslimbrüder delegitimieren und entmachten – unter Anrufung eben des von diesen reklamierten »populären Mandats«, des Volkswillens.

Das autoritäre und kompromisslose Vorgehen Mursis beziehungsweise der Führungsebene der Muslimbruderschaft war auch in der Organisation umstritten. Von vielen Mitgliedern sind in diesen Tagen auch kritische Stimmen zu hören, die beklagen, dass die Organisation sich offensichtlich selbst ins Abseits manövriert habe. Kritisiert wird dabei zum einen die Entscheidung, einen Kandidaten zur Präsidentschaftswahl aufzustellen, die von den »Falken« um Shater und den obersten Führer Mohammed Badie in der Parteiführung mit Unterstützung von Jugendkadern gegen beträchtlichen Widerstand durchgesetzt wurde. Zudem sehen so manche Brüder und Schwestern die Ursache für den Verlust des Vertrauens der Bevölkerungsmehrheit in der schwachen Führung Mursis, der in Krisensituationen manchmal tagelang von der Bildfläche verschwand, sowie darin, dass sich die »Falken« auf die zügige Besetzung staatlicher Posten mit loyalen Anhänger und auf die gesellschaftsreformerische Macht der Verfassung konzentriert haben. Über 80 Jahre lang habe die Organisation warten müssen, um an die Macht zu kommen, heißt es: Warum musste nun alles überstürzt in kürzester Zeit erzwungen werden? Warum hat die Führung kein Gespür für die alles entscheidende soziale Frage (Jungle World 29/13) gehabt? Warum ist die Situation, gerade in den letzten Wochen vor Mursis Sturz, nicht realistisch eingeschätzt worden?
Tatsächlich sind die taktischen Entscheidungen der Muslimbrüder in den vergangenen Jahren und Monaten nur mit ihrer ursprünglich vom Ergebnis der Parlamentswahlen herrührenden Hybris zu erklären, die durch den Sieg in den Präsidentschaftswahlen noch bestärkt wurde. Wie viele westliche Kommentatoren hatten sie ihren Wahlsieg als Sieg der islamistischen Strömung verstanden und die Stimmen für ihre Wahlliste mit Stimmen für ihre ideologischen Grundsätze und ihr gesellschaftsreformerisches Vorhaben gleichgesetzt. Doch das Wahlergebnis beruhte auf der Tatsache, dass die Muslimbruderschaft in den Augen der meisten als eine nicht korrumpierte, da jenseits des staatlichen Apparats stehende Kraft erschien, und dass sie im Gegensatz zu den oppositionellen Gruppen im Wahlkampf landesweit auf ein gut organisiertes Netzwerk von hunderttausenden Mitgliedern und Unterstützern zurückgreifen konnte.

Als die versprochene islamische »Lösung« der Probleme auf sich warten ließ, Lebensmittel- und Energiekosten sowie Armuts- und Arbeitslosenrate weiter stiegen und unfähige Anhänger des alten Regimes durch unfähige Anhänger der Islamisten ersetzt wurden, kippte die Stimmung. Doch die Muslimbrüder sahen landesweit nur Verschwörungen, durchtriebene Pläne verborgener Mächte und Ränke des alten Regimes. Unruhen waren in ihren Augen das Werk bezahlter Schläger, gegen Streiks ließen sie die Ordnungskräfte brutal vorgehen. Vertreter der Opposition, die gegen die autoritäre Politik und die Einschränkung von Bürgerrechten auf die Straße gingen, überzogen sie mit Gerichtsprozessen, während sie gleichzeitig alle Justizbeamten zu korrupten Mubarak-Anhängern erklärten und in die Unabhängigkeit der Gerichte eingriffen. Tötete die Po­lizei oppositionelle Demonstranten, dankten die Muslimbrüder den Sicherheitskräften für die Herstellung von Recht und Ordnung und das konsequente Vorgehen gegen Gewalttäter. Entschlossen müsse gegen das »Verbrechen« der Straßenblockaden vorgegangen werden, forderte auch einmal Präsident Mursi.
Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass die Opposition nun nicht in Scharen den Muslimbrüdern zu Hilfe eilt, wenn die Ordnungskräfte gegen Straßenblockaden von deren Anhängern mit exzessiver Gewalt vorgehen und sogar mehr als 100 Islamisten töteten. Es ist auch wenig verwunderlich, dass die oppositionellen Medien die Einheit von »Volk und Armee« beschwören und die Repression gegen die »Terroristen« und bärtigen bewaffneten Unholde der Muslimbruderschaft bejubeln – über ein Jahr hatten diese ihrerseits die Polarisierung der Medien forciert und versucht, kritische Berichterstattung zu unterdrücken und staatliche Medien auf Linie zu bringen.
Es ist auch nicht verwunderlich, dass die Solidarität schwerfällt, wenn von islamistischen ebenso wie von antiislamistischen Demonstranten tatsächlich Schusswaffen eingesetzt, zudem unabhängige Menschenrechtsbeobachter als »Gegner« verjagt und ägyptische Journalisten attackiert werden. Zehntausende Islamisten sind seit Wochen auf den Dauerkundgebungen in Kairo, übermüdet, verunsichert, aufgestachelt von Rednern, die ohne jede Rücksicht auf die politische Realität zum Kampf für den »legitimen Präsidenten« aufrufen – einen Kampf bis in den Tod. Die Mobilisierungskapazität der Organisation ist ausgereizt, ihr Beharren auf den Dauerkundgebungen hat das gewaltsame Ausagieren der gesellschaftlichen Polarisierung forciert.

Aus einigen Städten wird von Übergriffen auf Männer und Frauen berichtet, die aufgrund ihres Aussehens für Islamisten gehalten wurden, in Alexandria hat »die revolutionäre Jugend« gar eine »Ausgangssperre für Muslimbrüder« verhängt. Kritische Stimmen, die vor der Faschisierung der Gesellschaft warnen, sind kaum zu vernehmen. Nachdem in den vergangenen Wochen mehr als 20 Polizisten, Soldaten und Zi­vilisten bei Terroranschlägen insbesondere im Sinai starben, wird überall ein entsciedenes Vorgehen gegen »den Terror« gefordert, und zu definieren, wer als Terrorist gilt, fällt ins »populäre Mandat« des Militärs. Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt General al-Sisi, das Gesicht der »zweiten Revolution«, das sehr viel bekannter ist als das des Übergangspräsidenten und -premierministers.
Die Lage der Muslimbruderschaft ist prekär. Mehrere Möglichkeiten, Kompromisse zu schließen, hat sie verpasst. Mehrmals war ein safe exit ihrer Führungsschicht inklusive ihres Millionenvermögens im Gespräch, wenn die Muslimbrüder als Gegenleistung bereit seien, die Entmachtung zu akzeptieren und die Massenproteste einzustellen. Doch wochenlang beharrten Vertreter der Organisation auf der Maximalforderung der Rückkehr zum status quo ante und betrieben Lobby­arbeit unter westlichen Medienvertretern sowie unter europäischen und US-amerikanischen Diplomaten.
Nun, wo diese Strategie kaum Ergebnisse gebracht hat, fast die gesamte Führungsschicht inhaftiert ist und die gewaltsame Räumung der Protestlager droht, hat sie ihre Forderungen reduziert. Die den Muslimbrüdern in den vergangenen Jahren eng verbundenen Regierungen der USA und der Türkei sowie die EU üben großen Druck aus, damit die Muslimbrüder möglichst zügig wieder an der politischen Macht beteiligt werden, und fordern neben einem safe exit weitere Zugeständnisse an die Islamisten. Das steigert deren Verhandlungsmacht, die in Ägypten selbst im Moment eher gering ist. Gleichzeitig droht als Alternativszenario ein Verbot der Organisation und eine Repressionswelle gegen ihre Kader. Die salafistische »Partei des Lichts«, die vom schwachen Bündnispartner zum starken Konkurrenten der Muslimbrüder avanciert ist, hat die Situation derweil für sich genutzt. Denn egal wie Militär und Übergangsregierung im Machtkampf mit der Muslimbruderschaft vorgehen, brauchen sie doch das »populäre Mandat« – und damit auch die Legitimation aus dem islamistischen Lager.