Über die Anti-Prism-Bewegung in Deutschland

Das Private wird politisch

Die Anti-Prism-Bewegung will sich im Biedermeier des Rechtsstaats einrichten.

Jedenfalls würde keiner von ihnen sagen können, er sei nicht gewarnt worden. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Warnungen hatte jeder Einzelne in den Wind geschlagen. Man hatte sie eindringlich darauf hingewiesen, wie ihre albernen Facebook-Mätzchen von völlig humorlosen Personalentwicklern interpretiert werden könnten und was das für ihre Jobchancen bedeuten würde. Man hatte ihnen auch gesagt, dass ihr Finanzstatus sich nicht gerade verbessern würde, wenn gallige Bonitätsprüfer der Banken mit ihrer virtuellen Bild- und Textproduktion konfrontiert wären. Auch die Warnung vor dem »gläsernen Kunden« hatten sie entnervt von sich gewiesen. Sollten doch die Marketing-Spürhunde ruhig Google- und Amazon-Daten durchschnüffeln, mehr als tonnenweise Spam würde das auch nicht einbringen. Lästig zwar, aber damit konnten sie doch leben; nicht nur als Bürger, auch als Konsumenten waren sie schließlich mündig. Und als dann auch noch den Abmahnanwälten, die für illegale Downloads von Filmen und Musik ihre Pfoten aufhielten, von Gerichten die Grenzen gezeigt wurden, da fühlten sich alle irgendwie mega-mündig, ja souverän im Netz.

Aber dann – die Yankees! Oh my God! Nicht, dass sie völlig überraschend erschienen wären, irgendwie waren sie ja schon immer da, und es heißt ja auch, dass ihr Militär das Internet sogar mal erfunden habe. Nur, jetzt sind sie dabei, uns völlig aus dem Häuschen zu bringen: »Wir Bürger erfahren aus der Berichterstattung, dass ausländische Nachrichtendienste ohne konkrete Verdachtsmomente unsere Telefonate und unsere elektronische Kommunikation abschöpfen.« ­Jawohl, wir Bürger, und nicht wir Massenmedienkonsumenten, wir erfahren die relevanten Dinge aus der Berichterstattung. Nur böse Menschen fragen hier, ob diese Einbildung nicht schon ein konkretes Verdachtsmoment darstellt. Und auch nur böse Menschen können fragen, ob die folgenden Sätze wirklich mehr als einen schon seit Jahren herrschenden Zustand beschreiben: »Über die Speicherung und Auswertung von Metadaten werden unsere Kontakte, Freundschaften und Beziehungen erfasst. Unsere politischen Einstellungen, unsere Bewegungsprofile, ja selbst unsere alltäglichen Stimmungslagen sind für die Sicherheitsbehörden transparent. Damit ist der ›gläserne Mensch‹ endgültig Wirklichkeit geworden.« Ach tatsächlich? Wirklich erst jetzt?
Neu sind gewiss unsere Bewegungsprofile. Dieser Terminus fehlte bislang in der Begriffswelt der unverwechselbaren Persönlichkeiten. Und als solche möchten die Unterzeichner des an die »sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin« adressierten offenen Briefs durchaus gelten. Verfasst von der Schriftstellerin Juli Zeh und »mitunterzeichnet« von 59 Berufskollegen erschien das Schreiben zunächst in der FAZ, ins Internet gestellt erfuhr es bald den Zuspruch Zehntausender weiterer Unterzeichner, alles Träger von einmaligen Bewegungsprofilen. Deren Zahl steigt weiter an, so dass zu befürchten steht, dass der Text recht bald zum Rekordhalter als offener Brief mit den meisten Unterzeichnern wird.

All diese Leute waren zuvor schon auf ihre Mitschuld an den unheimlichen Ereignissen hingewiesen worden. In der Süddeutschen Zeitung hatte ihnen Heribert Prantl die Leviten gelesen: »Der Exhibitionismus der Web-Gesellschaft nutzt das Internet als Entblößungsmedium. Aus der Daten­askese der Volkszählungszeit ist eine Daten-eks­tase geworden, eine Selbstverschleuderung von Persönlichkeitsdetails in Wort und Bild.« Das müsste eigentlich gesessen haben, aber war den Leuten wirklich klar geworden, was sie angerichtet hatten, als sie den klugen Mann zur Freisetzung des Wortmonsters »Selbstverschleuderung« zwangen? Der freilich ist mild gestimmt und als Katholik hat er stets die Möglichkeit einer zumindest partiellen Absolution im argumentativen Handgepäck. Seine Frage »Hat die Gesellschaft den Datenschutz weggeworfen wie ein altes Fahrrad?« ließ uns zunächst bangen. Doch dann folgte, erlösungsverheißend wie der Schaum eines frischgezapften Weizenbiers, ein »Mitnichten.« Die präzis gegliederte Begründung ließ aufatmen: »Erstens: Zwar wirft man sein Fahrrad nicht irgendwo hin. Aber auch der, der das macht, tut damit nicht kund, dass er künftig auf den Schutz seines gesamten Eigentums verzichten will. Zweitens: Internet-Exhibitionisten können nicht die Grundrechte für andere und schon gar nicht für die gesamte Gesellschaft aufgeben.«

Apropos Internet-Exhibitionismus: Es scheint, als handele es sich hier um ein generationsübergreifendes Phänomen, etwas, das gewissermaßen die mentale Erbgesundheit des deutschen Volkes tangiert. Im Aufruf zum bundesweiten Aktionstag »gegen die Ausspähung durch den US-amerikanischen Geheimdienst NSA« wird dies suggeriert: »Wir wollen nicht, dass unsere Kinder in einer Welt leben müssen, in der ihre jugend­lichen Liebesbriefe in einem zentralen Datenspeicher gesammelt werden«  – und darin der Belanglosigkeit überantwortet werden, möchte man fortfahren. Hätten sie eine Chance auf Veröffentlichung als »Die schönsten jugendlichen Liebesbriefe – befreit aus angloamerikanischer Daten-Geiselhaft«, sähe die Sache wohl anders aus. Eine ältere Teilnehmerin des Aktionstags gesteht dem Neuen Deutschland: »Meine Söhne sind ständig im Netz. Ich habe Angst, dass sie in zehn oder 20 Jahren Nachteile haben, weil gespeichert wird, was sie im Internet schreiben.« Ob die Dame ihren Söhnen Nachhilfeunterricht bei Herrn Prantl empfehlen wird? Vielleicht werden bald die ersten psychotherapeutischen Angebote ­gegen Internet-Exhibitionismus offeriert. Wo? Blöde Frage …
Anderswo, in der Gesellschaft Juli Zehs, denkt man in anderen Größenordnungen: »Wir erleben einen historischen Angriff auf unseren demokratischen Rechtsstaat, nämlich die Umkehrung des Prinzips der Unschuldsvermutung hin zu ­einem millionenfachen Generalverdacht.« Nun kann man mit Recht fragen, warum dieser Staat sich einen Verfassungsschutz als Geheimdienst leistet, wo ihm doch Zehntausende Schrift- und Unterschriftsteller als freiwillige Rechtsstaatverteidiger zur Verfügung stehen. Aber Unschuldsvermutung und Generalverdacht sind keine Gegensätze, die ineinander verkehrt werden könnten. Erstere ist ein rein strafprozessuales Mittel, letzterer ist eine der Grundmotivationen staatlichen Handelns: Die Verletzung des Privateigentums ist nicht nur Dieben, sondern allen verboten. Umsturzgedanken sollen nicht nur Revoluzzern und Terroristen sondern allen fremd sein.
Jeder Staat weiß, dass seine Bürger niemals vollständig in ihren sozialen Rollen und Funktionen aufgehen, dass ihnen als Menschen stets auch ein »Wir können auch anders« zur Verfügung steht. Die hauchdünne Trennwand zwischen ideologisiertem Staatsbürger und interessengeleitetem Menschen begründet den permanenten Generalverdacht des Staates gegen sein Staatsvolk.
Irgendwie wissen engagierte Staatsbürger das auch. Vielleicht ahnen sie es auch nur. Jedenfalls, wenn es ans Eingemachte geht, kleiden sie ihre Kritik alleruntertänigst in rhetorische Fragen. So Juli Zeh und ihre Truppe: »Profitieren die deutschen Dienste von den Informationen der US-Behörden (…)? Wie kommt es, dass BND und Verfassungsschutz das NSA-Spähprogramm zur Überwachung von Suchmaschinen einsetzen, wofür es keine gesetzliche Grundlage gibt?« Was wäre wohl, wenn die erste Frage mit einem lapidaren »Ja« beantwortet und die in der zweiten angemahnte Rechtsgrundlage nachgereicht würde?