Ist im türkischen Kayseri kaum Protesten begegnet

Parallelwelten am Erciyes

Während am Taksim-Platz in Istanbul und andernorts in der Türkei die Proteste gegen Erdoğan eskalierten, trafen sich in Kayseri in der Zentraltürkei Künstler, um über ihre Probleme zu sprechen. Dabei vermieden sie jede politische Einmischung – selbst als Erdoğan persönlich in der konservativen Hochburg vorbeikam.

»Zurzeit gibt es Probleme. Leute demonstrieren. Sie repräsentieren aber nicht die ganze Türkei. Künstler haben die Möglichkeit, dies zu reflektieren«, sagt Züleyha Yılmaz Sir zum Abschluss des viertägigen Workshops »How to get in (to art business)«.
Für junge Künstlerinnen wie Züleyha ist Kayseri ein hartes Pflaster. Kayseri ist ein wichtiges Industrie- und Handelszentrum, ziemlich genau in der Mitte der Türkei gelegen, gut 1 000 Meter über dem Meer und 2 900 Meter unterhalb des Gipfels des erloschenen Vulkans Erciyes. Der Wirtschaft, vor allem Textil- und Möbelindustrie, geht es hier gut, überall wird gebaut und seit den sechziger Jahren hat sich die Bevölkerung verfünffacht auf heute über eine Million.

Die Geburtsstadt des derzeitigen türkischen Präsidenten Abdullah Gül ist aber auch eine besonders konservative, islamische Stadt. Das Kopftuch ist im Straßenbild präsenter als in Ankara, und Wein bekommt man im Restaurant bestenfalls diskret im Saftglas serviert, denn der Ausschank von Alkohol ist in den normalen Gaststätten verboten. An Kunst ist man hier nicht sonderlich interessiert. Junge Künstler überlegen daher, wegzugehen oder ihren Lebensunterhalt mit Kunsthandwerk zu bestreiten: Dekoratives und Kitschiges mit lokalen Motiven verkauft sich gut. Jungen Künstlern zu helfen, damit sie nicht abwandern oder sich in die Niederungen der Kitschproduktion begeben müssen, ist eines der Ziele des Workshops in Kayseri, zu dem auch einige Künstler aus Ankara angereist sind. Der Workshop wurde im Rahmen des EU-Projekts »networks – participative democracy« gemeinsam mit einem türkischen Partner des Berliner Vereins »Clever – internationale Bildung e. V.« organisiert.
Sema Çetin hat bereits an verschiedenen Orten in der Türkei und in Ägypten an Ausstellungen teilgenommen, aber noch nie etwas verkauft. Sie ist die älteste Teilnehmerin des Workshops und hat schon als Kunstlehrerin gearbeitet. Ihre neueren Arbeiten abstrahieren historische Architekturdetails in handliche Bronzeplastiken, die, genau wie sie selbst, rundherum professionell wirken. Auch einen kleinen Katalog hat sie für ihre Arbeiten: auf Hochglanzpapier gedruckt, mit professionellen Fotos, in einer türkischen und einer englischen Version. Woran hakt es dennoch?
Zum Auftakt des Workshops hatte Ute Großmann von Clever e. V. die Strukturen des Kunstmarktes dargestellt: Künstler – als sich selbst vermarktende Einzelkämpfer, in Künstlergruppen oder vertreten durch Galerien – treffen auf zwei unterschiedliche Kunstmärkte. Auf dem primären trifft der Künstler auf den Sammler, der sekundäre ist Teil des Finanzmarktes. Auf ihm sind es Kunstfonds, Stiftungen oder Museen, die nach anderen, nach wirtschaftlichen Kriterien kaufen.
Für Sema ist eine erste Erkenntnis, dass sie sich zu wenig international präsentiert: Sie braucht eine Website. Im Gegensatz zu den anderen Teilnehmern hat sie auch schon so etwas wie ein künstlerisches »Mission Statement« und Beschreibungen ihrer Kunstwerke auf Englisch. Gerade die Sprache ist für viele ein großes Hindernis. »Für postgraduierte Studien werden gute Sprachkenntnisse vorausgesetzt, aber die Ausbildung ist schlecht«, erklärt Hakan Pehlivan, Kunstprofessor an der Erciyes Universität, der größten von dreien in Kayseri. Er hat unter anderem in Newcastle studiert. »Das war mein Glück«, sagt er und weist auf ein weiteres Problem hin: Der Staat unterstützt zwar die Unis – in den vergangenen Jahren wurden etwa 40 staatliche »Fine Arts«-Universitäten eröffnet –, doch: »Wo sollen die Studenten dann alle arbeiten?«, fragt er.
Pehlivan kennt auch andere Kunstzentren außerhalb der Türkei, war in Berlin, Wien, Prag, Barcelona. Europa sei für die türkischen Künstler wichtig, nicht nur als Markt, sondern auch für den kulturellen Austausch. »Wir leben in einer grenzenlosen Welt, Grenzen verschwinden, Kultur wird wichtiger. Das ist ein Reichtum«, ergänzt Züleyha. Andere betonen aber auch, wie wichtig ihnen das Bewahren einer eigenen türkischen Identität sei: »Kultur muss bewahrt werden, eine hybride Kultur ist nicht real«, meint etwa die Künstlerin Meltem İğret.
Die meisten Kunststudenten wollen einfach im staatlichen Bereich unterkommen: an der Uni oder als Lehrer. Auch nach diversen Privatisierungen ist der Staat in der Türkei noch einer der wichtigsten Arbeitgeber. Das und die konservative Grundhaltung erklären vielleicht auch, warum die heftigen Proteste um den Gezi-Park in Istanbul bei den Teilnehmern hier kein vordringliches Thema sind. Zwar gab es auch in Kayseri Proteste, an denen Tausende Menschen teilnahmen, doch von einer entstehenden Bewegung oder einer anhaltenden Aufbruchstimmung kann in diesen Tagen hier nicht die Rede sein.

Am Tag nach dem Workshop hat sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan in Kayseri angekündigt. Nach einer öffentlichen Massenveranstaltung am Nachmittag auf dem zentralen Platz Cumhuriyet Meydanı will er zu der Eröffnung der Fifa-U20-Fußballweltmeisterschaft ins Kadir-Has-Stadion. Mittags, während die Stadt noch mit Türkei- und AKP-Flaggen behängt wird, erklärt ein Architekt, der in einem Café an der Atatürk-Statue ein Maulbeereis isst, dass er wie viele hier in der Gegend Erdoğan wieder wählen würde. Einfach, weil er »alternativlos« sei. Weder gebe es hinter Erdoğan einen Nachfolger, noch könne einer aus der zerstückelten Opposition ihn ersetzen. Eine schwache Regierung würde den Einfluss des Militärs wieder stärken, ist seine Ansicht. »An die Zeiten von Militär- und Polizeistaat gibt es noch viele Erinnerungen«, betont der Architekt, während am anderen Ende des Platzes die Bühne für den Ministerpräsidenten aufgebaut wird, dessen Polizei gerade in Istanbul, Ankara und anderen Städten mit größter Brutalität gegen Demon­stranten vorgeht.
Die Sicherheitsmaßnahmen sind geringer, als man es bei der derzeitigen Situation in der Türkei erwarten würde. Normale Absperrungen, Taschen werden bei den Vorkontrollen nur flüchtig kontrolliert, ein paar Scharfschützen neben der ansonsten offenen Bühne. Kayseris zentraler Platz ist später bei der Kundgebung nicht ganz gefüllt: 14.30 Uhr an einem Werktag ist im wirtschaftlich boomenden Kayseri nicht die beste Zeit für eine Massenveranstaltung, da nutzen auch die Busladungen mit herangekarrten Anhängern aus dem Umland nichts. Vielleicht aber ist der Wille, sich zu Erdoğan zu bekennen, sogar hier in seiner Hochburg derzeit einfach etwas geringer. Die jedoch, die gekommen sind, jubeln ihrem Idol zu, bedienen seine Rhetorik mit passenden Zustimmungs- oder Unmutsbekundungen. Ein eingespieltes Team, eine weitgehend homogene Masse, eher langweilig als beeindruckend.
Neben der AKP-Kundgebung sammeln sich im modernen Hilton-Hotel derweil die koreanische und die kubanische U20-Nationalmannschaft für die Abfahrt zum Eröffnungsspiel. Bei einer zufälligen Begegnung im Fahrstuhl des Hilton erklärt Fifa-Präsident Sepp Blatter, wie wichtig der Wettbewerb für die Jugend sei. Aber in der Empfangshalle des Hotels erwarten gerade mal zwei weibliche Fußballfans Autogramme der koreanischen Spieler, und abends in der Fernsehübertragung sehen die Ränge im Stadion so leer aus, dass es selbst einem an Fußball Desinteressierten leid tut. Dabei wurden bei der Kundgebung noch massenhaft Karten an die Erdoğan-Getreuen verschenkt.
Eine Gegenkundgebung während oder nach Erdoğans Auftritt sucht man zudem in Kayseri vergeblich. Es zeigen sich keine Wasserwerfer und auch das ansonsten in der Türkei gerade so viel versprühte Tränengas kommt nicht zum Einsatz. Für den Abend wurde zu einem »Schweigenden Protest« in den Park neben dem Cumhuriyet Meydanı mobilisiert. Aber im Park wird nur Tee getrunken, gepicknickt und flaniert. Nicht einmal eine erhöhte Polizeipräsenz lässt etwas von möglichem Protest ahnen.

»Unser größtes Problem steckt in uns selbst: Wir warten«, sagte Pehlivan ein paar Tage zuvor während des Workshops. Was so klingt, als sei es auf die Revolte gemünzt, ist ein Statement zur türkischen Künstlerszene. Seine Studenten sähen nirgends Künstler, die von ihrer Kunst leben können. »Die meisten Künstler sehen sie an der Uni, sie leben vom Staat.« Um die jungen Künstler zu aktivieren, müssen sie sich auch über ihre eigenen künstlerischen Motivationen klar werden und diese zudem vermitteln können. Ina Rathfelder von Clever e. V. macht mit den Workshopteilnehmern dafür ein Rollenspiel: Erst sollen sie paarweise sich selbst und ihre Kunst in einer Art Speeddating vorstellen, danach im Perspektivwechsel vor der ganzen Gruppe eine Eröffnungsrede für eine Ausstellung halten, als wären sie ihr eigener Galerist.
Auffallend ist bei allen Teilnehmern, dass sie ihre Kunst als irgendwie in der Gesellschaft verankert verstehen, sei es historisch, regional oder sozial. Doch als politisch wollen sie ihre Kunst explizit nicht verstanden wissen. Am Ende des Workshops war geplant, auch noch etwas in der Öffentlichkeit zu machen, eine Kunstaktion. Doch auch aus Angst, dass man selbst im ruhigen Kayseri damit automatisch irgendwie mit den Protesten im Gezi-Park in Zusammenhang gebracht werden könnte, hat man davon abgesehen.
Ganz ohne praktische Kunst wollte Züleyha den Workshop dann aber doch nicht zu Ende gehen lassen. Sie ließ unterschiedlich gefärbte rohe Eier in eine Schüssel werfen, die zerbrechenden Schalen symbolisieren das Überwinden noch bestehender Grenzen. Züleyha setzt dabei auf die Kunst: »Sie ist wichtig!« Der Taksim-Platz ist weit weg.