Der Aufstand in Istanbul

Es geht nicht um Bäume

Was in Istanbul als Protest gegen die städtische Baupolitik begonnen hat, ist zu ­einer Revolte gegen den Autoritarismus der türkischen Regierung und die Islamisierung der Gesellschaft geworden.

Kemal Taşdan, ein junger Anwalt aus der türkischen Homosexuellenszene, fotografiert lachend ein Graffito an einer Hauswand im Stadtteil Cihangir. »Transphobie ist Tayyips Lebenselixier«, steht dort in schwarzen Lettern. Einer der vielen auf den Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan gemünzten Sprüche, die in diesen Tagen um den Taksim-Platz herum an Bauzäune, Wände und Müllcontainer gesprüht werden.
Am Sonntag ist die Stimmung in Beyoğlu gelassen. Menschen jeden Alters füllen die Straßen, viele halten Bierflaschen in der Hand. Kemal drückt seinen Freund an sich. Die Leute tun demonstrativ alles, was die türkische Regierungspartei AKP in den vergangenen Monaten zum »unerwünschten Verhalten« erklärt und mit Sank­tionen bedroht hat, indem sie den Druck auf die liberalen Stadtbevölkerung durch selbsternannte Sittenwächter erhöht hat. Übergriffe von Konservativen auf einen von der LBGT-Bewegung mitgetragenen »Kiss-in« in Ankara am 25. Mai gehörten zu den Auslösern der Revolte der vergangenen Woche. Ein Jugendlicher war dabei mit einem Messerstich verletzt worden. Auch ein neuer Gesetzentwurf zur Reduzierung des Alkoholkonsums, demzufolge der Verkauf alkoholischer Getränke zwischen 22 und 6 Uhr verboten und ­private Parties im Freien im Falle von Alkoholkonsum einer Genehmigung der Stadtverwaltung oder des Amtes des Gouverneurs bedürfen sollen, zählen zu den Auslösern der Revolte der vergangenen Tage. »Wir wissen, was das heißt«, sagt Kemal mit besorgtem Gesicht, »Gängelei und Korruption. Letztlich muss jeder an die Islamisch-Konservativen spenden, um privat feiern zu dürfen und eine Genehmigung zu erhalten. Hat man keine, kommt die Polizei zum Schikanieren oder zum Abkassieren.«
Viele tippen neben dem Biertrinken auf ihren Mobiltelefonen herum. Die sozialen Medien haben wie während des »arabischen Frühlings« die konventionellen Medien überholt und ersetzt. Das gilt in allererster Linie für die türkischen Medien wie CNN-Türk, die Tier- und Raumfahrtdokumentationen ausgestrahlt hatten, während die Polizeigewalt auf den Straßen eskalierte.
Doch während Beyoğlu feiert, gehen die Gas­attacken im benachbarten Viertel Beşiktaş am Bosporus weiter. Die Dolmabahçe-Moschee wird von den Demonstrierenden kurzerhand in eine Krankenstation umgewandelt. Freiwillige Ärzte versorgen dort die mit Atembeschwerden und anderen Verletzungen kämpfenden Menschen. Der Gesundheitsminister Recep Akdağ hatte am Freitag erklärt, wer gegen die Regierung rebelliere, dem stünden keine staatlichen Ambulanzen zur Verfügung. Eine inhumane Geste, die nicht wirkungslos blieb. Am Samstag kam es in der Notaufnahme des staatlichen Erste-Hilfe-Krankenhauses Taksim zu Handgreiflichkeiten, weil der Chefarzt Verletzte und ein Team freiwilliger Ärzte abgewiesen und das Personal Krankentransporte in andere Krankenhäuser boykottiert hatte. Bis Redaktionsschluss am Dienstag bestätigte die Vereinigung der türkischen Ärzte (TBB) den Tod des 19jährigen Mehmet Ayvalitas, der tödlich verletzt worden sei, als ein Auto bei einer Blockade der Istanbuler Stadtautobahn in die Menge raste. Unbestätigt war bis Redaktionsschluss hingegen der Tod eines zweiten Demonstranten, Ethem Sarisuluk, der nach Angaben von Metin Bakkalcı, dem Generalsekretär der Türkischen Menschenrechtsstiftung, durch einen Schuss in den Kopf gestorben sei.

Am Sonntag war Ankara das Zentrum der Proteste und der brutalen Repression durch die Polizei. Demonstrierende wurden in einem Ladenlokal eingekesselt und mit Pfeffergas beschossen. Es soll in der gesamten Stadt insgesamt über 400 Verletzte geben. Auf einem Video ist die Aktion einer Aktivistengruppe in der Hauptstadt zu sehen, die die Aggression der Polizei vermutlich mit ausgelöst hat. Die Demonstrierenden bewerfen eine sich hinter Schutzschilden verbergende, versprengte Polizistenkohorte mit den eigenen Gaskartuschen. Die Ordnungshüter husten, spucken und fluchen und müssen sich schließlich die Schilde abnehmen lassen. Ein Polizist humpelt verletzt an ihn gnadenlos filmenden Handys vorbei. Die Demonstrierenden schwenken rote Fahnen hinter den Polizeischilden. Das Video ist Zehntausende Male geteilt worden, eine Schmach für jene, die gewöhnt sind, die Medien zu manipulieren.
Die Polizei musste am Samstagnachmittag den Taksim-Platz verlassen, nachdem sie zwei Tage lang Demonstrierende durch ganz Beyoğlu gejagt hatte. Die Straße der Biertrinker war vor allem Freitagnacht mit Gaskartuschen beschossen worden. Viele Demonstrierende hatten sich mit Gasmasken ausgerüstet, andere behalfen sich mit Taucherbrillen und Tüchern. Das Komitee, das die Proteste am Gezi-Park organisiert, hatte viele Helfende mit Anti-Acid-Sprayflaschen ausgerüstet. Am besten wirkt wohl Anti-Gastritis-Pulver mit Wasser.
»Ich lasse mich doch nicht von einer Menge von Dahergelaufenen in meinen Entscheidungen beeinflussen«, polterte Ministerpräsident Erdoğan in einer seiner vielen Stammtischreden ähnelnden Stellungnahmen am Sonntag. Darüber können die Hunderttausenden Beteiligten nur lachen. Der »türkische Frühling«, wie die Revolte bereits genannt wird, hat eine neue Qualität erreicht. Was mit einem Zeltlager im von der Abholzung bedrohten kleinen Gezi-Park neben dem Taksim-Platz begonnen hat, ist der spontane Zusammenschluss der Intelligentsia der Stadt gegen eine ideologisch motivierte Sanierungspolitik in Istanbul (Jungle World 17/2013) geworden. Seit zwei Jahren wehren sich einzelne Initiativen gegen die Zerstörung ihrer wichtigsten Kulturorte. Der Filmpalast Emek wird gerade abgerissen. Das Atatürk-Kulturzentrum, ein Wahrzeichen für die Kulturpolitik der kemalistischen Modernisierungsphase, ist ebenfalls dem Abriss geweiht. Der Ministerpräsident betonte am Sonntag erneut, er werde eine Moschee auf dem Taksim-Platz bauen lassen.
Als die Polizei Freitagmorgen gegen fünf Uhr das Zeltlager der Besetzerinnen und Besetzer des Gezi-Parks mit Einsatz von Pfeffergas angriff und Zelte und Transparente verbrannte, löste dies eine Protestwelle aus, die sich so schnell nicht beruhigen sollte und an der sich immer mehr Menschen beteiligten. Am Samstag marschierte sogar eine Gruppe türkischer TV-Schauspieler über die İsti­klal Caddesi, die zentrale Einkaufsstraße von Beyoğlu, darunter Halil Ergün, der in der Serie »Das prächtige Jahrhundert« den für die Blütezeit des Osmanischen Reichs stehenden Sultan Süleyman spielt. »Was hier passiert, hat weder mit der türkischen noch mit der islamischen Kultur irgendetwas zu tun, das ist ein Vandalismus der Kulturverächter«, sagte der Schauspieler erschöpft in einer Presserklärung, nachdem auch diese Demonstration brutal aufgelöst worden war.

Carole Woodall prostet Kemal Taşdan zu. Sie gehört zu den zahlreichen nicht-türkischen Bewohnern Beyoğlus, die sich den Protesten angeschlossen haben. Die 46jährige war Freitagnacht auf dem Nachhauseweg vom Gaskartuschenbeschuss in der Nähe der İstiklal Caddesi überrascht worden. Doch nicht nur dieses Erlebnis motivierte die US-Amerikanerin, sich an den Demonstrationen zu beteiligen. »Ich lebe seit 20 Jahren immer wieder für begrenzte Zeit in Istanbul, es ist meine zweite Heimat. Ich habe das Gefühl, dass alles sich in der Geschichte wiederholt.« Die amerikanische Historikerin forscht zur Musikgeschichte in der Türkei der zwanziger Jahre. Schon damals rangen kemalistische Republikaner und sultantreue Konservative um die Kultur in der Stadt. Während in verschiedenen Clubs neben Stars wie Josephine Baker viele der damals populären Jazzgrößen auftraten, reglementierte die Prohibition das öffentliche Leben. Erdoğan favorisiert ein solches Zivilisationsmodell. »Wer trinken will, soll das zu Hause tun«, gehört zu den vielen lächerlichen Statements eines Politikers, der nicht zu begreifen scheint, dass viele in der Türkei der kleinbürgerlichen Bigotterie nur mit Kopfschütteln begegnen.
Was bewegt diesen Politiker, der seit zehn Jahren die türkische Regierung leitet und eine Zeitlang sogar als Hoffnungsträger für eine Liberalisierung in der Türkei galt? Der Ministerpräsident strebt nach Größe und die Demokratie ist diesem Ziel untergeordnet. Das Jahr 2023 ist für ihn ein magisches Ziel für die Vollendung seines Lebenswerkes: Die türkische Republik wird dann 100 Jahre alt und Erdoğan wünscht sich, spätestens bis zu diesem Zeitpunkt das Land umgestaltet zu haben. Die Türkei soll zunächst eine neue Verfassung erhalten. Die alte wurde 1982 unter der Militärregierung erlassen. Das Land soll gleichzeitig zu einer der zehn größten Wirtschaftsnationen der Welt werden. Die megalomanische Neugestaltung Istanbuls soll dem Aufsteiger gleich mehrere Denkmäler setzen: Ein dritter Flughafen ist geplant, es soll der größte der Welt werden. In Thrakien, der an Griechenland angrenzenden Provinz, soll es einen zweiten Bosporus geben: Ein großer Kanal soll dort das Marmara-Meer mit dem Schwarzen Meer verbinden. Mit Hotelanlagen und Luxuswohnungen soll Geld in die Kassen des verschuldeten, vom ausländischen Kapital abhängigen Landes kommen. Die Istanbuler Innenstadt, und dazu gehört das derzeit im Zentrum der Proteste stehende Beyoğlu, soll eine Art Las Vegas osmanischer Prägung werden.
Dabei hat das Viertel nichts mit der türkischen oder der osmanischen Geschichte zu tun. Beyoğlu entstand auf der anderen Seite des Goldenen Horns, gegenüber der historischen Altstadt Sultanahmet, wo die Hagia Sophia und der Topkapi-Palast stehen, als Sitz der nicht muslimischen Minderheiten und der diplomatischen Auslandsvertretungen. Die Osmanen, auf die sich Erdoğan so gern beruft, wollten eine Anbindung an Europa bereits seit dem 18. Jahrhundert. Die Relikte dieser Zeit werden derzeit systematisch eliminiert. Große Teile des Tarlabaşı Boulevard am Taksim-Platz, wo früher vor allem Armenier und Griechen lebten, werden abgerissen und durch Hotels und Luxusresidenzen ersetzt. Der Taksim-Platz und der Gezi-Park waren in den dreißiger Jahren als der Erholung für alle errichtet worden. Auf dem Gelände des Gezi-Parks sollte nun eigentlich die abgerissene und von niemandem vermisste osmanische Kaserne als Shopping Mall wiedererrichtet werden. In allumfassender Sultansmanier proklamierte Erdoğan in einem Fernsehinterview am Samstag, das sei ja noch gar nicht entschieden. Es müsse ja kein Einkaufszentrum, es könne auch ein Museum errichtet werden.
Aber darum geht es schon lange nicht mehr.

»Wir werden nicht weichen«, betonte das Komitee für den Widerstand um den Gezi Park am Sonntag. Trotz der informellen, aber de facto herrschenden Medienzensur haben sich die Proteste im ganzen Land ausgebreitet, in mehr als 60 Städten wurde demonstriert, Organisation und Koordinierung laufen über die sozialen Medien.
Ali Habizadeh, ein Homosexueller aus dem Iran, dessen Flüchtlingsstatus gerade anerkannt wurde, teilt aus dem westanatolischen Denizli über Facebook mit, er könne die Demonstrierenden hören, traue sich aber aus Angst, verhaftet zu werden, nicht, seine Wohnung zu verlassen. »Resist, don’t stop, I know what oppression means«, gehört zu den Nachrichten, die er an die türkische »Occupy«-Bewegung richtet.
Dass diese Bewegung so spontan und eruptiv entstehen würde, hatte niemand erwartet. Doch die plötzliche Solidarität von Menschen unterschiedlicher politischer Orientierung, die vor allem der Widerstand gegen eine autoritäre, von extremer Polizeigewalt unterstützte Regierungspolitik eint, dürfte kaum aufzuhalten sein. Bislang waren die Gräben der Denkrichtungen zu tief. Kemalisten, Kommunisten, Feministinnen, Kurden, Aleviten und Liberale trennten zu viele Interessenskonflikte. Der gemeinsame Kampf um symbolische Orte wie der Gezi-Park vereint plötzlich alle: gegen Despotie und die neoliberale Umgestaltung der Stadt. Das Auftreten des Ministerpräsidenten wirkt in diesem Moment auf viele so, wie es ist: ein trotziges Gestrampel eines verwöhnten kleinen Jungen, dem Grenzen aufgezeigt werden.
»Wenn die Hunderttausende mobilisieren, dann kann ich dem eine Million entgegensetzen«, drohte Erdoğan am Samstag. Über eine Million haben mittlerweile landesweit gegen ihn protestiert. Beyoğlu wird gerade nicht von Biertrinkern belebt, sondern von einer Bewegung, die sich über eigene Kommunikationskanäle organisiert, internationale Unterstützung erhält und fest entschlossen ist, keine Kompromisse einzugehen.
Viele einflussreiche Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft solidarisieren sich derzeit mit der Bewegung. Türkische Akademiker im Ausland, Museumsdirektoren, sogar die sonst eher lahme internationale Diplomatie greift ein. Die deutschen, italienischen und österreichischen Schulen in Beyoğlu, Institutionen, die zwar vom türkischen Staat getragen, aber in internationaler Zusammenarbeit verwaltet werden, öffneten während der Ausschreitungen am Wochenende ihre Tore den mit Gasangriffen malträtierten Demonstrierenden und verwehrten der Polizei den Zutritt.
»Ich war nie ein politischer Aktivist«, sagt Kemal Taşdan, »aber dieser Protest ist so wichtig, dass mir momentan egal ist, welche persönliche Folgen er für mich haben wird.« Er hört sich erstaunt Carole Woodalls intellektuelle Ausführungen über die Parallelen der heutigen Bewegung mit den Modernisierungsbestrebungen in den zwanzigern und dreißiger Jahren in der Türkei an. Seine Freunde aus der LBGT-Bewegung füllen kleine Wasserflaschen mit roten Linsen und beginnen eine musikalische Untermalung des Sounds aus der Straße, indem sie die Linsenflaschen rhytmisch schütteln. Ein angenehmes Geräusch entsteht. Unaufdringlich, zeitgemäß und beständig. So wie der Protest, der gerade in den Straßen der Innenstadt von Istanbul entsteht und mit Spannung weiter zu verfolgen ist.