Die Verschärfung der Strafen für Vergewaltiger in Marokko

Strafe statt Hochzeit

In Marokko soll der Artikel 475 des Strafgesetzbuches geändert werden, um minderjährige Frauen besser vor sexueller Gewalt zu schützen. Doch damit wäre es noch nicht getan.

Vor knapp einem Jahr sorgte der Selbstmord der 16jährigen Amina Filali in Marokko für große öffentliche Empörung (Jungle World 20/2012). Für kurze Zeit geriet das Regime von König Mohammed VI., das bei europäischen Regierungen als reformwillig gilt und nur selten kritisiert wird, auch international in die Kritik. Filali hatte Rattengift geschluckt, nachdem sie mit ihrem Vergewaltiger zwangsverheiratet worden war. Dabei war der zweite Paragraph des Artikels 475 des marokkanischen Strafgesetzbuches angewandt worden. Dieser ermöglicht es einem Vergewaltiger, sein Opfer mit dem Einverständnis von dessen Eltern zu heiraten und dadurch strafrechtlicher Verfolgung zu entgehen. Die Heirat Minderjähriger ist in Marokko unter gewissen Bedingungen erlaubt. Die Eltern Filalis hatten in sie eingewilligt, weil sie die Ehre der Familie erhalten wollten.

Mit diesem Prozedere soll jetzt Schluss sein: Ende Januar wurde eine Teilrevision des Artikels 475 vom Justizministerium vorgestellt. Die Gesetzesänderung sieht vor, den zweiten Paragraphen des Artikels 475 zu streichen und den Artikel um zusätzliche Paragraphen zu erweitern, die eine schärfere Bestrafung der Täter ermöglichen sollen. Ein Vergewaltiger einer Minderjährigen soll künftig für 20 Jahre ins Gefängnis kommen, bei Entjungferung des Opfers bis zu 30 Jahre. Bislang können Vergewaltiger zu maximal fünf Jahren Haft verurteilt werden. Der Abänderungsantrag für Artikel 475 gelangt nun in die beiden Parlamentskammern. Ein terminlicher Rahmen zur Annahme des Gesetzes ist nicht bekannt.
Der Fall Filali hatte im vergangenen Jahr in Marokko landesweit Proteste von Feministinnen und zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgelöst. Das Vorhaben, einen Teil des Gesetzesartikels zu streichen, wertet Khadija Abenaou, die Verantwortliche für die Sektion Frauenrechte der marokkanischen Menschenrechtsorganisation AMDH, zum jetzigen Zeitpunkt nicht einmal als »Teilerfolg«. »Der Abänderungsantrag wurde bisher nur vorgeschlagen. Eine Evaluierung ist schwierig, solange das Parlament den Antrag nicht diskutiert hat«, sagt Abenaou. »Der Vorschlag ist weit davon entfernt, die Frau in ihrer physischen und moralischen Integrität zu verstehen. Zudem lässt das Gesetzesprojekt erwachsene oder verheiratete Opfer genauso wie Vergewaltigungen an männlichen Kindern außer Acht«, kritisiert sie.

AMDH und andere Menschenrechtsorganisationen fordern stattdessen eine radikale Gesamtrevision des Strafgesetzbuches in Einklang mit den internationalen Menschenrechten. Frauen sollen umfassend gegen Gewalt und Diskriminierung geschützt und ihnen sollen individuelle Freiheiten eingeräumt werden. Die Situation der marokkanischen Frauen und die Auswirkungen des Artikels 475 behandelt auch der Film »475: When Marriage Becomes Punishment« des jungen Filmemachers und Menschenrechtsaktivisten Nadir Bouhmouch. Seine Premiere hat der Film in Marokko und den USA passend zum zweiten Jahrestag des Beginns der Proteste des »Mouvement du 20 Février« (M20F) am 18. Februar.
Die marokkanische Verfassung, die im Juli 2011 infolge der landesweiten Proteste des M20F, das politische Reformen forderte, in einem Referendum angenommen wurde, garantiert in Artikel 19 Frauen und Männern gleiche Rechte, allerdings im Rahmen der »Konstanten und Gesetze des Königreichs«. Für Abenaou ist dieser Bezug auf die »Konstanten« – Traditionen oder religiöse Lehren – ein großes Hindernis für die Gleichberechtigung. Der marokkanische Staat behalte bei gewissen Artikeln der Konvention über die Abschaffung aller Formen der Diskriminierung gegenüber Frauen Vorbehalte aufrecht, unter dem Vorwand, dass deren Forderungen gegen die Sharia verstießen, erklärt Abenaou. AMDH fordert deshalb statt der nur zaghaft reformierten eine demokratisch ausgearbeitete Verfassung, die klar zwischen Staat und Religion trennt und damit Gleichheit von Frauen und Männern garantiert.