Hat ein Jugendgefängnis in Madagaskar besucht

»Wenn du Geld hast, ist alles möglich«

Ein Besuch im Jugendgefängnis Antanimora in Antananarivo, der Hauptstadt Madagaskars.

Die kaputte Straße, die zum Gefängniskomplex führt, ist steil und dreckig. Überall versuchen Straßenhändler, kleine Gerichte, Saft und Süßigkeiten an die ankommenden Besucher der Inhaftierten zu verkaufen. Bevor wir auf das Gelände dürfen, werden wir an einer Schranke von Militärangehörigen kontrolliert. Skeptisch untersuchen sie die Kamera, doch nach einer kurzen Diskussion dürfen wir passieren. Neugierig schauen die anderen Besucher uns hinterher. Dass sich ein vazaha, das madagassische Wort für »Weißer« oder »Fremder«, in dem Viertel blicken lässt, kommt eher selten vor. Der Wärter am Eingang zum Gefängnis begrüßt uns herzlich. Einer der Insassen des quartier des mineurs, des »Viertels der Minderjährigen«, darf ihm wegen guter Führung aushelfen. Er bringt uns zu der kleinen Holztür, von der aus wir direkt in den Hof des Haupthauses gelangen. Aufgeregt rennen die, die uns bemerkt haben, in unsere Richtung. Meine Madagassisch sprechende Begleiterin versucht die Jungen zu beruhigen, doch der von allen Seiten kommende Lärm wird immer lauter. Sie begleitet mich über den Platz in das kleine Büro der NGO Grandir Dignement (»In Würde Aufwachsen«), die sich seit über einem Jahr um die Belange und Wünsche der Jugendlichen kümmert und für ihre Rechte eintritt.
Dort bespricht Tafita gerade die Geschehnisse der vergangenen Tage mit den beiden »Zimmerchefs«, die wöchentlich wechselnd von den Gefängniswärtern ausgewählt werden. »Es hat einen kleinen Streit in der letzten Nacht gegeben, bei dem zwei der Jungs sich leicht verletzt haben«, erzählt der Sozialarbeiter, doch eigentlich sei das Verhältnis unter den Heranwachsenden aufgrund der klaren Hierarchien recht gut. Tafita arbeitet an vier Tagen in der Woche bis abends mit ihnen zusammen, er ist ihr Sprecher gegenüber den Wärtern, die eher militärische Erziehungsmethoden anwenden, kümmert sich um die Organisation von Beschäftigungsmöglichkeiten und hat immer ein offenes Ohr für seine Schützlinge. Die Arbeit macht ihm sichtlich Freude. Der Umgang der jungen Häftlinge mit ihm zeigt, dass auch sie ihn mögen. Bevor er das Büro abschließt und durch den Hof zu den Zimmern geht, sagt er lachend: »Auch wenn es manchmal schwer ist, die Erfolge meiner Arbeit zu erkennen, spätestens wenn ich nach Feierabend nach Hause laufe und die Armut auf der Straße sehe, bin ich froh um meinen Job und weiß, dass ich wenigstens etwas tun kann.«

Der Inselstaat Madagaskar, der seit Februar 2009 von dem Putschisten Andry Rajoelina als Präsident der eigens installierten Übergangsregierung unter dem Namen »Haute Autorité de Transition« (HAT) geführt wird, ist eines der ärmsten Länder der Welt. 2011 stand er auf der Forbes-Liste für die schlechteste Wirtschaftslage auf dem ersten Platz. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt hier von weniger als einem Euro am Tag, mehr als ein Drittel der Kinder sind unterernährt. Die zunehmende Landflucht in die im Hochland gelegene Hauptstadt erschwert die Versorgungssituation, insbesondere in den Slums der Außenbezirke.
Seit drei Jahren versucht die Übergangsregierung, die derzeit zerstritten ist, Neuwahlen zu organisieren. Im September 2011 wurde die feuille de route verabschiedet, ein Plan für die Regierungsbildung, das Papier unterzeichneten damals zehn der elf politischen Bewegungen Madagaskars. Darin ist ausdrücklich vorgesehen, dass alle im politischen Exil lebenden Madagassen, einschließlich des ehemaligen Präsidenten Marc Ravalomanana, auf die Insel zurückkehren dürfen. Trotzdem scheiterte er bereits mehrmals bei seinen Versuchen einzureisen, zuletzt im Februar, als sein Rivale alle Flughäfen des Landes sperren ließ.
Im August trafen sich die beiden Hauptakteure der Krise auf den Seychellen, um Schlichtungsgespräche zu führen. Ob die zuletzt für den 8. Mai 2013 anberaumten Wahlen letztlich stattfinden werden, hängt nun davon ab, ob und wann Ravalomanana zurückkehren wird, um sich offiziell als Kandidat registrieren zu lassen, und wie friedlich diese Rückkehr ablaufen wird. Rajoelinas Hauptsorge ist nach seinen eigenen Angaben die Sicherheit des Landes. Da Ravalomanana in Abwesenheit wegen der Ermordung mehrerer Menschen und Komplizenschaft bei den Unruhen 2009, bei denen mehr als 140 Menschen ums Leben gekommen waren, verurteilt wurde und ihm somit eine Festnahme bevorstehen würde, befürchten viele erneute Aufstände. Seine Anhänger gingen in den vergangenen drei Jahren immer häufiger auf die Straße, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen, wodurch der Druck auf die Übergangsregierung und deren erst 38jährigen Präsidenten immer weiter wächst. Zuletzt verkündete Mamy Rakotoarivelo, der Sprecher der Mouvance Ravalomanana, dass deren Präsident vor dem 18. Oktober wieder nach Madagaskar einreisen werde. Die »Southern African Development Community« (SADC) kündigte nach ihrer letzten Zusammenkunft am 17. und 18. August in Mosambik an, den Fall Ravalomanana innerhalb von 60 Tagen zu klären.

Im quartier des mineurs bekommen die Jugendlichen nicht viel davon mit. Dabei haben sie unter den Folgen dieser politischen Machtspiele zu leiden. »Was soll ich anderes tun? Ich bin lieber hier drinnen mit einem Dach über dem Kopf und etwas zu essen als draußen auf der Straße, besonders jetzt, wenn der Winter kommt«, erzählt ein schmächtiger Junge, der gelangweilt in einer Ecke sitzt und den anderen beim Basketball zuschaut. Das Beschäftigungsprogramm fällt, auch aufgrund der beschränkten Finanzmittel der Hilfsorganisationen vor Ort, spärlich aus. Neben einer Stunde Fernsehen oder Musikhören pro Tag beschäftigen sich die meisten im Hof mit Brettspielen, rasieren sich gegenseitig die Köpfe oder machen Kniebeugen, um anschließend die Dicke ihrer Oberschenkelmuskulatur zu vergleichen. Die Schwestern der christlichen Organisation Bethlehem bieten zudem Schulunterricht an. Dieser ist jedoch schlecht besucht und nur ein kleiner Teil der Anwesenden folgt dem Unterricht halbwegs konzentriert. Schon das kleinste Ereignis lenkt die Jugendlichen ab und die Lehrerinnen haben Probleme, ihre Schüler auf die Plätze zurück zu dirigieren und für Ruhe zu sorgen.
In dem Gefängnis leben derzeit etwa 141 männliche Jugendliche. Der Jüngste unter ihnen ist gerade erst 13 Jahre alt geworden. Verteilt sind sie auf zwei Zimmer mit je ungefähr 25 Quadratmetern, in denen sie oft zu viert in durch Tücher abgegrenzten Zellen schlafen.

Bereits um sechs Uhr abends werden die beiden Gruppen nach einem Abendappell in ihre düsteren und engen Zimmer gesperrt. Hier beten sie meist noch eine Stunde und singen Lieder, bevor die Lichter ausgehen.
Die hygienischen Bedingungen in den Räumlichkeiten sind miserabel. In den fürs Waschen vorgesehenen Badezimmern gibt es bereits seit Monaten kein fließendes Wasser mehr. Lediglich zwei Hähne in dem überschaubaren Hof des Gebäudes funktionieren noch. Die Verbreitung von Tuberkulose ist in madagassischen Gefängnissen 16 Mal höher als in der restlichen Bevölkerung.
»In all den Monaten, die ich hier arbeite, war ich bisher noch kein einziges Mal in den Badezimmern der Jungs«, sagt Meuilline, Angestellte bei Grandir Dignement, »denn schon in den Schlafzimmern finde ich den Geruch fast unerträglich.« Meuilline kommt aus Guadeloupe und kam im Februar zum ersten Mal hierher. Zusammen mit zwei madagassischen Kollegen kümmert sie sich darum, dass die jungen Männer wenigstens einen gewissen Lebensstandard erhalten. »Als wir hier ankamen, gab es nicht einmal Matratzen und Decken. Die Jungs haben teilweise auf dem kalten und feuchten Boden geschlafen.«
Die NGO hat auch damit begonnen, Ordner anzulegen, um die persönlichen Daten der Jugendlichen zu sammeln. Durch diese regelmäßige Dokumentation zeigte sich, dass viele der Insassen immer wieder hier auftauchen. Dulce etwa hatte noch im vergangenen Monat bei einem Becher Cola mit seinen Freunden und Tafita seine Entlassung gefeiert, doch schon eine Woche später wurde er wieder festgenommen.
Jeder, der hier ankommt, hat eine Untersuchungshaft von mindestens sechs Monaten vor sich. So lange dauert es, bis ihnen ein Gerichtsprozess gemacht wird. Zu oft scheint es dabei zu willkürlichen Verurteilungen zu kommen. Die Mitarbeiter der Haftanstalt schätzen, dass mindestens die Hälfte aller Insassen unschuldig ist. Bei einigen sind sie davon fest überzeugt.
Fast alle säßen wegen Diebstahls, Einbruchs oder kleinerer Überfälle, dreien von ihnen werde Mord vorgeworfen, berichten die Gefängnismitarbeiter. Manche seien in Gewaltdelikte verwickelt. Schätzungsweise die Hälfte der Jungen kommen aus sehr armen Verhältnissen, die andere Hälfte lebt sonst auf der Straße und hat meist keine andere Möglichkeit, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, als durch Kriminalität. Viele von ihnen haben keinerlei Kontakte zu Eltern und Verwandten, teilweise sind diese inzwischen an unbekannte Orte umgezogen. Dadurch bekommt etwa die Hälfte der zwischen 13- und 20jährigen niemals Besuch. Der Rest erhält von Angehörigen wenigstens ab und an noch etwas Nahrung oder andere Kleinigkeiten, was bei einer Tagesration von 600 Gramm Maniok pro Person auch dringend nötig ist. Viele sitzen tagsüber im Hof und kochen in ihren kleinen Töpfen das Mitgebrachte, und obwohl der Hunger groß ist, sind viele bereit, das Wenige, das sie besitzen, zu teilen.
Die Organisation Bethlehem bringt zudem ein oder zwei Mal in der Woche einen großen Topf mit Reis vorbei. Das madagassische Grundnahrungsmittel ist so begehrt, dass die Ausgabe geregelt verläuft. Verteilt werden die Portionen von den beiden derzeitigen »Zimmerchefs«. Diese stehen noch über den zehn Gruppenchefs, die einmal pro Woche gemeinsam mit den Arbeitern von Grandir Dignement über Vorkommnisse und die Stimmung in den einzelnen Gruppen reden.
»Derzeit versuchen wir, mit der Organisation Manda eine Kooperation aufzubauen«, sagt Meuilline, »die arbeitet bereits seit vielen Jahren gemeinsam mit Straßenkindern, und so versuchen wir, wenigstens ein paar der Jugendlichen nach der Haft in Ausbildungsprogramme zu integrieren.« Doch für viele der Jugendlichen hat sie keine große Hoffnung. »Wir hatten auch schon ab und zu Insassen, die aus einer reichen Familie kamen«, erzählt Tafita, bevor wir das Gelände verlassen, »doch diese werden meist bereits nach zwei Wochen wieder entlassen. Denn wenn du Geld hast, ist in diesem Land alles möglich.«