Vor den Präsidentschaftswahlen in Venezuela

Spiel mit den Ängsten

In Venezuela finden am 7. Oktober Präsidentschaftswahlen statt. Eine Niederlage des seit 1999 amtierenden Präsidenten Hugo Chávez ist möglich. Für diesen Fall hat Chávez vor Gewalt gewarnt.

»Herz meines Vaterlandes« heißt die Wahlkampagne von Hugo Chávez. Das Pathos ist typisch für den 58jährigen Präsidenten Venezuelas, der zurzeit kreuz und quer durch das Land reist und Wahlkampf macht. Dabei gibt sich der ehemalige Fallschirmspringer als Landesvater, väterlicher Freund und Ratgeber. Ungewohnt zahm sozusagen, denn schließlich ist Chávez ein Freund der großen, markigen Worte, der Attacken auf die Opposition und auf die finsteren Spießgesellen aus den USA, die er hinter seinen Gegnern stehen sieht.
Doch diesmal scheint alles anders zu sein. Eine der Ursachen dafür könnte die von brasilianischen Beratern erarbeitete Wahlkampfstrategie sein, die andere die Tatsache, dass viele Wähler und Wählerinnen in Venezuela noch nicht entschieden haben, für wen sie stimmen wollen. Dem ehemaligen Oberstleutnant, der seit 1999 amtiert, steht mit dem moderat auftretenden Henrique Capriles Radonski nun ein ernstzunehmender Herausforderer gegenüber. Immerhin ein Drittel der Wahlberechtigten hat sich bisher nicht entschieden. Diese ninis, so haben die Umfrageinstitute sie getauft, werden den Ausschlag geben. Die allermeisten von ihnen sind weiblich, jung, stammen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten und plädieren für den Fortschritt. Allerdings wollen sie den auch im alltäglichen Leben spüren, und das könnte für die Wahl entscheidend werden, so das regierungskritische Umfrageinstitut Datanálisis. Ein Urteil, dem auch die anderen Institute nicht widersprechen. Doch sehen sie anders als Datanálisis den derzeit amtierenden Präsidenten mit einem erheblichen Vorsprung in Führung liegen. Chávez könne mit etwa 56 bis 58 Prozent der Stimmen rechnen, so heißt es.
Wenn ihm die ninis nicht einen Strich durch die Rechnung machen. Kritik muss sich der zumindest offiziellen Quellen zufolge von seiner Krebserkrankung geheilte Chávez nämlich gefallen lassen. Nach 14 Jahren Amtszeit, von denen allerdings etliche von einer extremen Polarisierung innerhalb der Gesellschaft geprägt waren, sind viele der ambitionierten Pläne der »Bolivarischen Revolution« längst Makulatur. Beispielsweise die Wiederbelebung einer einst erfolgreichen Agrarwirtschaft, die berühmt war für die besten Kakaobohnen der Welt. Auch mit der ausufernden Korruption wollte die Regierung Chávez aufräumen. Doch das Ranking der NGO Transparency International zeigt, dass zwischen Anspruch und Realität eine Lücke klafft. Auf Platz 172, zwischen Burundi und Haiti, befindet sich die nach Simón Bolívar, dem Befreier Lateinamerikas, benannte Republik.

Die Korruption wird von Herausforderer Capriles ebenso in den Vordergrund seiner Kampagne gerückt wie die wenig erfolgreiche Wirtschaftspolitik von Hugo Chávez. Auf 3,2 Prozent beläuft sich das durchschnittliche jährliche Wachstum seit dessen Amtsantritt. Damit, so die Kritiker, liegt das Wachstum unter der lateinamerikanischen Quote von rund vier Prozent im gleichen Zeitraum. Auch die Abhängigkeit von den Lebensmitteleinfuhren aus Brasilien und anderen Ländern wird in der Kampagne von Capriles hervorgehoben. Immerhin 70 Prozent der Nahrungsmittel müssen derzeit importiert werden, und die Quote hat sich in den 14 Jahren unter der Ägide des Oberstleutnants aus Sabaneta merklich erhöht – obgleich das Gegenteil als Ziel ausgegeben wurde. Die wenig erfolgreiche Wirtschaftspolitik mit ihren zahlreichen Verstaatlichungen, die längst nicht immer eine positive Wirkung hatten, könnte somit wahlentscheidend werden. Zumal sich der Herausforderer Capriles Radonski, der ebenfalls brasilianische Wahlberater beschäftigt, moderat gibt, sich als Sozialdemokrat präsentiert und mehrfach versprochen hat, an den Sozialprogrammen der Regierung festzuhalten.
Doch entscheidend ist, ob die Bevölkerung dem 40jährigen Anwalt aus Caracas auch glaubt. Warum die Kopie wählen, wenn das Original noch zugegen ist? Chávez hat die Sozialprogramme schließlich initiiert. An diese Programme haben sich viele Venezolaner gewöhnt, und die sozialen Maßnahmen haben die Armut in dem so rohstoffreichen Land, dessen Erdölreserven neuen Schätzungen zufolge die größten der Welt sind, von 49 Prozent im Jahr 1998 auf 24 Prozent im Jahr 2009 reduziert.

Auch die offiziellen Arbeitslosenzahlen sind rückläufig. So lag die Erwerbslosenrate Ende 2010 bei sieben Prozent, 1999 waren es noch 14,5 Prozent. Bei der Umverteilung der Reichtümer des Landes, in erster Linie der Erdöleinnahmen, hat die Regierung ebenfalls Fortschritte gemacht, denn die ökonomische Ungleichheit wurde reduziert. Berechnet nach dem Gino-Koeffizienten, sank die Ungleichheit von 0,49 im Jahr 1998 auf 0,39 im Jahr 2010. Erfolge, die genauso wie die höhere Einschulungsquote kaum zu bestreiten sind und doch gern ignoriert oder mit dem Argument begegnet werden, dass dafür die Öleinnahmen vergeudet würden.
Immerhin 40 Milliarden US-Dollar hat der staatliche Ölkonzern PDVSA 2011 für Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungsbau- und Entwicklungsprogramme bezahlt. Eine erhebliche Summe, daran ändern auch die Vorwürfe nichts, dass oft nicht effektiv mit den Mitteln gewirtschaftet wird, dass Klientelismus bei der Vergabe eine Rolle spiele und dass vieles, so zum Beispiel der Wohnungsbau, kaum vorankommt. Doch wie könnte Capriles es besser machen? Droht mit ihm nicht die Rückkehr zur alten oligarchischen Herrschaft? Das ist eine Frage, die in Armenviertel wie Petare immer wieder gestellt wird. Diese Viertel hat auch Capriles aufgesucht, denn er braucht die Stimmen der Armen, um Chávez aus dem Präsidentenpalast Miraflores zu verdrängen.
Folgerichtig vermeidet Capriles jedes Wort, das den Verdacht schüren könnte, er stehe für die traditionelle Oligarchie, die bis 1998 ein einträgliches Geschäft mit den von ihr kontrollierten Ressourcen des Landes machte. Er konzentriert sich in seiner Kampagne auf die offensichtlichen Defizite des Chavismo, die zunehmende Zahl von Gefängnisunruhen, die hohe Mordrate, das Bedürfnis nach mehr Sicherheit und die immer wieder kursierenden Gerüchte über desaströse Zustände in den Ölanlagen des Landes.

Und Capriles lässt nichts unversucht, um Hugo Chávez zum Fernsehduell zu bewegen. Doch darauf hat sich der an sich nicht publikumsscheue 58jährige, der den iranischen Präsidenten Mah­moud Ahmadinejad ebenso wie Fidel Castro zu seinen persönlichen Freunden zählt, bisher nicht eingelassen. Das könnte daran liegen, dass es zu viele negative Schlagzeilen gibt, sei es der Brand in der Raffinerie von Amuay oder der Protest im Stahlwerk Sidor, dessen Belegschaft bei Chávez’ Stippvisite einen neuen Arbeitsvertrag forderte.
Gleichwohl kann sich Hugo Chávez aber auch relativ sicher sein, in Führung zu liegen. Zu seinem Sieg beitragen könnten auch seine Aussagen, dass ein Wahlerfolg des Herausforderers Venezuela ins Chaos stürzen könnte. Außenminister Nicolás Maduro schürte jüngst die Ängste, als er Hugo Chávez als die »große Garantie für den Frieden« und als »Impfstoff gegen die Gewalt« rühmte. Das könnte der Kampagne von Chávez zusätzlichen Schwung verleihen. Ohne ihn wäre die Zukunft ungewiss, lautet die Botschaft, und eine rechte Regierung unter Capriles müsste mit Widerstand der Bevölkerung und eventuell auch aus des Staatsapparats rechnen. Ein Szenario, das auch bei den ninis Befürchtungen auslösen dürfte. So könnte es sein, dass sie sich für Chávez entscheiden – nicht, weil sie die Revolution wollen, sondern weil sie Stabilität wünschen.