Die Entwicklungen in der Eurokrise

Zurück zur Vernunft

Die Wahlen in Frankreich und Griechenland leiten keine Linkswende ein, könnten aber die Bundesregierung zu Kompromissen zwingen.

Der CDU wird oft vorgeworfen, sie stehe nicht mehr zu christlichen Traditionen. Doch können wir in der Krisenpolitik der Kanzlerin Angela Merkel unschwer das Erbe des antiken Theologen Tertullian erkennen. »Ich glaube es, weil es absurd ist«, sagte Tertullian über die jungfräuliche Geburt. Tatsächlich bedürfte es eines Wunders, um in Griechenland, das durch extreme Sparmaßnahmen und eine Senkung der Kaufkraft um mittlerweile wohl 30 Prozent in Rezession und Verelendung getrieben wird, eine jungfräuliche Geburt des Wachstums zu bewirken.
Obwohl die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft als kapitalistische Theologie gelten kann, da sie vom nicht hinterfragten Glauben an die unsichtbare Hand des Marktes und den Homo oeconomicus ausgeht, wollen die meisten Ökonomen sich nicht auf Wunder verlassen. Schließlich hat Gott die Menschen, theoretisch also auch die Deutschen, mit Verstand ausgestattet, damit sie ihre Probleme lösen können.

Man muss also weder Sozialist noch »Sozialist« wie der neue französische Präsident François Hollande sein, um die deutsche Krisenpolitik abzulehnen. Selbst die Rating-Agentur Standard & Poor’s urteilt, dass »ein allein auf einer Säule der fiskalen Austerität basierender Reformprozess selbstzerstörerisch werden könnte«. Nichts anderes sagt Hollande (siehe Seite 9), und auch die in Deutschland meist als radikal oder sogar extremistisch eingestufte linke Parteienkoalition Syriza, die mit knapp 17 Prozent der Stimmen nun die zweitstärkste Fraktion im griechischen Parlament ist, geht in ihren Forderungen nicht über den Standard linker Sozialdemokratie hinaus.
Syriza wird von Synaspismós dominiert, einer Partei, die der deutschen Linkspartei ähnlich und mit ihr in der »Europäischen Linken« verbündet ist. Das Parteienbündnis befürwortet einen starken öffentlichen Sektor, einen Spitzensteuersatz von 75 Prozent und die Rücknahme der Kürzungen im Sozialbereich. Gefordert wird die Streichung »der meisten Schulden«, eine Suspendierung der Rückzahlung verbleibender Kredite, um eine »wirtschaftliche Erholung zu ermöglichen«, günstigere Bedingungen für den Schuldendienst sowie »Entwicklungs- und Beschäftigungsmaßnahmen«.

Extremistisch ist nicht die Forderung, der Schuldendienst solle bezahlbar bleiben, die sich vom Urteil der Rating-Agenturen vornehmlich in den Vorstellungen über die Höhe des von den Gläubigern zu akzeptierenden Verlusts unterscheidet, sondern der Starrsinn der Bundesregierung. Nach Angaben der Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg gehen die Anleger ohnehin davon aus, dass es eine weitere Umschuldung geben wird. Da auch Parteien der griechischen Rechten sich gegen die derzeitige Sparpolitik aussprechen, ist es unwahrscheinlich, dass eine Regierung zustande kommt, die weiter den deutschen Vorgaben folgt. Daran dürften auch Neuwahlen nichts ändern.
Die Bundesregierung hat also wohl nur die Wahl, entweder die Zahlungen zu stoppen und einen unkontrollierten Staatsbankrott Griechenlands auszulösen, der auch die Finanzprobleme anderer Staaten wie Spanien verschärfen würde, oder zur Vernunft zu kommen. Zur kapitalistischen Vernunft, denn eine Milderung der Sparmaßnahmen und ein Investitionsprogramm, das den vollständigen Ruin der griechischen Wirtschaft verhindert, wären noch keine Linkswende.
Dass Alexis Tsipras, der Vorsitzende von Synaspismós, auch bereit ist, mit der rechtspopulistischen Partei »Unabhängige Griechen« zu verhandeln, zeigt vielmehr die Gefahr einer Querfront auf nationalistischer Grundlage. Die KKE, die ungebrochen stalinistische KP Griechenlands, befürwortet sogar die Rückkehr zur Drachme.
Es ist ohnehin fraglich, ob die Krise besonders günstige Bedingungen für linksradikale Agitation bietet. Zumindest in Griechenland treibt die blanke Not die Menschen auf die Straßen, nicht der Wunsch nach einem Leben ohne die Zumutungen des Kapitalismus. Da es derzeit vornehmlich darum geht, die Krise möglichst unbeschadet zu überstehen, kann es sinnvoll sein, sozialdemokratische Maßnahmen zu unterstützen, und die Erhöhung der Staatsschulden ist das letzte, worüber man sich Sorgen machen sollte. Doch obwohl die Rückkehr zum kapitalistischen Normalbetrieb schwer genug zu erkämpfen ist, sollte sie nicht mit sozialer Befreiung verwechselt werden.