Die Demokratisierung Myanmars geht nur langsam voran

Diszipliniert zur Demokratie

In Myanmar (Burma) wurden politische Gefangene freigelassen, die Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi darf bei den Wahlen kandidieren. Doch die Kontrolle wollen die Militärherrscher nicht verlieren.

Der Blick auf die jüngste Geschichte Myanmars zeigt ein Land in humanitärer Not, verstrickt in innere militärische Konflikte und bedroht von ökologischer Zerstörung. Protestbewegungen wurden bislang immer niedergeschlagen. Im Jahr 2007 nahm die Welt medialen Anteil an den politischen Unruhen, durch die Straßen von Yangon zogen lange Reihen safranrot gekleideter Mönche. Die Hoffnung auf eine Wiederholung der Proteste von 1988 war groß, ebenso der Wunsch, die junge Generation für die Proteste zu mobilisieren.
Damals, am 8. August 1988, hatten ein Generalstreik und Massenproteste die Militärregierung gezwungen, den »burmesischen Weg zum Sozialismus« zu verlassen. Selbstorganisierung löste die Einparteiendiktatur ab, doch das Militär errang durch einen Putsch die Macht zurück. Der erneute Zusammenschluss der Oppositionellen von 1988 gipfelte schließlich in den Protesten des Jahres 2007 und endet mit einer weiteren großen Verhaftungs- und Fluchtwelle. Aus Furcht vor einem Wiederaufflammen der Proteste von 1988 griff die Armee gegen die Demonstrierenden brutal und letztlich erfolgreich durch. Viele der alten Aktivisten wanderten erneut ins Gefängnis.
Nun sind sie, im Zuge der Amnestie vom 13. Januar, wieder frei. Zugleich erinnern Kritiker daran, dass noch immer politische Gefangene inhaftiert sind und die grundlegene Forderung nach Freilassung aller politischen Häftlinge bislang unerfüllt ist. Im Rahmen der Generalamnestie für 651 Gefangene sind zahlreiche Anführer der Opposition und der Protestbewegungen, Journalisten und Gewerkschafter freigelassen worden. Welche Hintergründe hat diese groß angelegte Amnestie? Was veranlasst die Machthaber zu einer solchen Geste?

Zu den Freigelassenen zählt auch ein Mann, den man nicht ohne weiteres unter ihnen erwarten würde: Khin Nyunt, von 2003 bis 2004 Ministerpräsident von Myanmar und selbst ein Offizier, der während seiner kurzen Amtszeit ein Programm zur stufenweisen Demokratisierung des Landes initiiert hat. Diese »roadmap to dis­ciplined democracy« wurde von der bedeutendsten Oppositionspartei, der National League for Democracy (NLD), als Täuschung und bloßer Versuch, Zeit zu gewinnen, interpretiert. Die NLD hoffte auf die Wirksamkeit internationaler Sanktionen gegen das Militärregime.
Khin Nyunt wurde wegen seiner Politik nach kurzer Zeit unter Hausarrest gestellt. Das von ihm entwickelte Demokratisierungsprogramm wurde jedoch weiterhin mit militärischer Präzision umgesetzt, obwohl längere Unterbrechungen und Krisen mehrfach ein Ende dieses Prozesses zu signalisieren schienen. Zu den sieben Stufen des Demokratisierungsprozesses zählt die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die die Vormachtstellung des Militärs auch nach einer Demokratisierung des Landes sichern soll. Das im Programm festgelegte Verfassungsreferendum fand 2008 statt, die Wahlen wurden planmäßig im Jahr 2010 abgehalten.
Der Demokratisierungsprozess stellt sich also als ein von langer Hand geplanter Übergang von einem Militärregime zu einem mit den Insignien der Demokratie, mit einer Verfassung und mehr oder weniger freien Wahlen, ausgestatteten System dar. Koordiniert wird dieser Übergang durch eine von der Regierung ins Leben gerufene Massenorganisation, sie wurde vor den Wahlen in eine Partei umgewandelt, die von dem derzeitigen Ministerpräsidenten Thein Sein geführt wird. Die Forderung der Regierung, alle Bürger müssten am Demokratisierungsprozess aktiv mitwirken, diente als Begründung für die Freilassung der 651 Gefangenen am 13. Januar. Von ihnen erwartet die Regierung, dass sie sie beim Demokratisierungsprozess unterstützt.
Die wiedergewonnene Freiheit der politischen Häftlinge ist also trügerisch. Nach dem Jubel des Augenblicks stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll. Die erneute Freilassung von Aktivisten, auch aus der 88er-Generation, erscheint auf den ersten Blick als eine Wiederholung der Geschichte und legt den Gedanken nahe, auch die dramatischen Ereignisse von 2007 könnten sich bald wiederholen. Doch ein zweiter Blick macht deutlich, wie sehr sich die Rahmenbedingungen seitdem verändert haben.
Diese Veränderungen manifestieren sich beispielhaft in einer Person. Aung San Suu Kyi, die Ikone der Oppositionsbewegung, wurde noch bei der Wahl im Jahr 2010 als Kandidatin ausgeschlossen, die NLD rief zum Boykott auf. Doch hatte die Militärregierung die Verfassungsgebung und die damaligen Wahlen noch im Alleingang bestritten, so räumt nun die Zivilregierung der im November 2010 aus dem Hausarrest entlassenen Oppositionsführerin einen Platz in der Politik ein, und Suu Kyi nimmt diesen auch an. Damit hat Aung San Suu Kyi ihre Rolle als Oppositionsführerin neu definiert, andere Oppositionelle zum Engagement motiviert und Hoffnungen geweckt.
Diese neue Kooperation ändert die Vorzeichen der Politik in Myanmar grundlegend. Aung San Suu Kyi kandidiert für einen Sitz im Parlament, die Nachwahlen sollen im April stattfinden. Noch vor einem Jahr war ein solcher Schritt unvorstellbar. Die nun freigelassenen Aktivisten der Proteste von 1988 stehen geschlossen hinter ihrer Kandidatur. Der Kampf um politische Macht wird damit von der Straße in die Wahllokale verlagert, die Wahrscheinlichkeit neuer Straßenproteste ist sehr gering. Doch was sich am Umgang mit Aung San Suu Kyi abzeichnet, lässt sich auch in anderen Bereichen der Politik beobachten. Zwar behält nach der Wahl, wie erwartet, das Militär eine starke Position, doch unter dem neuen Präsidenten Thein Sein werden umfangreiche Reformen durchgeführt.
Mit dem Besuch der US-amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton und des britischen Außenministers William Hague Anfang Januar erreicht beispielsweise die diplomatische Öffnung des Landes ihren bisherigen Höhepunkt. Gleichzeitig verliert die Idee von Sanktionen gegen Myanmar weiter an Bedeutung, nachdem sich bereits seit Jahren die Stimmen für eine Aufhebung mehren. Selbst vor Reformen im Mediensektor scheint die Regierung nicht mehr zurückzuschrecken, sie macht mit dem Zugriff auf Seiten der BBC und auf Youtube erste moderate Zugeständnisse an die Internetnutzer. Auch seit Jahren aus ökologischer und sozialer Sicht kritisierte und umkämpfte Großprojekte wie den Bau des Myitsone-Staudamms, der Strom für den energiehungrigen Nachbarn China liefern soll, hat die Regierung vorläufig gestoppt. Überdies wurden Gesetze, die die Grundlage zur Durchführung öffentlicher Demonstrationen und zur Gründung von Gewerkschaften schaffen, auf den Weg gebracht.
All diese Reformen als rein populistische Maßnahmen abzutun, die dem Regime mehr Ansehen im Westen oder im Jahr 2014 den ASEAN-Vorsitz verschaffen sollen, wird den dramatischen Veränderungen der politischen Verhältnisse nicht gerecht. In Myanmar vollzieht sich ein Wandel, in dem die politische Macht auf eine breitere Basis verteilt wird, wenn auch der Umgang der Menschen mit dieser neuen politischen Partizipation weiterhin bestimmt wird von propagierten Tugenden wie Selbstzensur, Mahnung zum Konsens und Folgebereitschaft.

Es sind vor allem die wachsenden ökonomischen Probleme des Landes, die die Machtstellung des Militärs künftig schwächen könnten. Das Militär hält das Land seit 1962 fest im Griff, dabei gehört Myanmar zu den ärmsten Ländern Südostasiens. Es gibt nur zwei Dinge, die wirklich billig sind, Zigaretten und Bier. Vor den Wahlen im Jahr 2010 erlebte das Land eine alarmierende Zahl von Privatisierungen staatseigener Unternehmen. Die alte Garde riss als Absicherung gegen einen – zumindest möglichen – Machtverlust nach den Wahlen Teile der Wirtschaft an sich, und tatsächlich sind trotz der von der Verfassung garantierten Vormachtstellung des Militärs hohe Positionen und Einfluss für einzelne Offiziere inzwischen keine Selbstverständlichkeit mehr.
Dabei orientieren sich die Militärs offenbar an Staaten, in denen die Demokratisierung mit dem Ausverkauf des Landes einherging, ähnlich der Entwicklung nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten. Mit ihrem Vorgehen hat die Regierung aber auch begonnen, ihre internationale Isolation zu überwinden und das Land für ausländische Investoren interessant zu machen, denn nichts ist attraktiver für diese als ein sich aus der Wirtschaft zurückziehender Staat. Die Privatisierungswelle setzt sich fort, erklärtes Ziel ist es, 90 Prozent aller Staatsunternehmen zu verkaufen. Unter den bereits privatisierten Unternehmen befinden sich Wasserkraftwerke, Häfen, Tankstellen, Fabriken, Edelsteinminen, Mobilfunkanbieter und eine Fluggesellschaft. Die Oligarchen werden zweifellos von einer Öffnung des Landes profitieren, bei der Auslands­investitionen nicht nur aus China ins Land strömen werden. Schon jetzt wächst die Tourismusbranche.
Im Zentrum der Reformen steht vor allem die Schaffung kapitalistischer Freiheiten, und gerade das entspricht den Bedürfnissen weiter Teile der Bevölkerung. Deren Wunsch nach einem kleinen Vermögen und einem guten Leben, fern von Armut und Mangelwirtschaft, ist ein Antrieb, jegliche Arbeit, auch unter ungünstigsten Bedingungen, zu akzeptieren. Bislang profitiert das Ausland, besonders Thailand, von den anspruchslosen und willigen Arbeitskräften aus Myanmar, doch es scheint, dass diese wesentliche Ressource in Zukunft vermehrt auch der aufstrebenden Privatwirtschaft zur Verfügung stehen soll. Der eingeschlagene Kurs einer gelenkten Demokratisierung, die neu gewonnenen Freiheiten durch Reformen und die Integration von Aung San Suu Kyi sowie der Opposition in den politischen Prozess führen zu einer Öffnung des Landes und größerer Mitbestimmung der Bevölkerung. Diese Öffnung wird jedoch von starken ökonomischen Motiven der im Entstehen begriffenen neuen Oligarchie beeinflusst.