Zwangsprostitution an der deutsch-französischen Grenze

Unfrei für die Freier

An der deutsch-französischen Grenze zwischen Kehl und Strasbourg läuft das Geschäft mit der Straßenprostitution gut für die Zuhälter. Viele Prostituierte werden jedoch zur Arbeit gezwungen.

Wer nachts im baden-württembergischen Kehl über die Europa-Brücke läuft, sieht die Frauen: Sie überqueren die Brücke, um auf dem Boulevard de Nancy, dem Quai Pasteur, der Avenue des Vosges oder in anderen Vierteln in Strasbourg in engen Röcken, mit tiefen Dekolletés und in High Heels ihrer Arbeit nachzugehen. Das ganze Jahr über harren die Frauen auf den Straßen aus, selbst bei klirrender Kälte. Die Freier fahren vorbei, mustern die Frauen wie Ware und entscheiden sich schließlich: Ab 30 Euro sind sexuelle Dienste zu haben.

Straßenprostitution ist hauptsächlich entlang der Grenzen zu Polen und Tschechien verbreitet. Dass das Geschäft auch an der deutsch-franzö­sischen Grenze gut läuft, ist weniger bekannt. Die das Milieu beherrschenden Zuhälter nutzen die Unterschiede in der Rechtsprechung beider Länder aus. In Frankreich sind Bordelle und vor allem die Zuhälterei verboten. Die Straßenprostitution wird jedoch geduldet. Die Prostituierten wohnen in Kehl und arbeiten in Strasbourg. So entziehen sich die Zuhälter der französischen Justiz und profitieren von der nicht ganz so strengen deutschen Gesetzgebung, indem sie das ­Geschäft von Kehl aus führen. Strasbourg hat 270 000 Einwohner und ist Sitz zahlreicher europäischer Einrichtungen wie etwa des Europa-Parlaments. Viele Touristen besuchen die Stadt. Zuhälter versorgen diesen Markt gewissenhaft.
Wie die zuständige Polizeidienststelle in Kehl berichtet, ist die Fluktuation unter den Pros­tituierten groß. Arbeiteten früher vor allem Russinnen auf der Straße, waren in den vergangenen Jahren besonders oft Rumäninnen, Tschechinnen, Bulgarinnen und Polinnen sowie Ni­gerianerinnen und Frauen aus der Dominikanischen Republik unterwegs, wie aus Statistiken von Hilfsorganisationen und Zahlen des baden-württembergischen Landeskriminalamts hervorgeht. Die meisten Frauen sind nicht älter als 25 Jahre und gehen ihrer Arbeit nicht freiwillig nach. Attraktive Arbeit im Westen oder eine Heirat zu versprechen – das sind die Tricks, mit denen Menschenhändler Frauen, die der Armut in ihren Heimatländern entrinnen wollen, in die Falle locken. Die Zuhälter überwachen die Prostituierten strikt und schrecken keinesfalls vor Gewalt zurück. Nicht selten übernehmen auch ältere Prostituierte die Rolle der Überwacherin auf der Straße.

Die 26jährige Marieta G.* aus Slowenien musste diese bittere Erfahrung machen. Die zierliche, blonde Frau fiel in ihrer Heimat auf einen Menschenhändler herein, der ihr eine gutbezahlte Arbeit in der deutschen Gastronomie in Aussicht stellte. Doch als sie in Deutschland ankam, musste sie auf den Straßenstrich. Sechs Wochen lang wurde sie geschlagen und vergewaltigt, bis ein Freier die Hilfsorganisation Freija in Kehl informierte, eine Einrichtung der Diakonie, die Mädchen und Frauen unterstützt und berät, die zur Prostitution gezwungen werden. Da sich Marieta G. in einer akuten Gefahrensituation befand, wurde sie von Freija anonym in einer Notunterkunft untergebracht, wo sie psychologisch betreut und versorgt wurde. Nach langem Zögern entschied sie sich, nach Slowenien zurückzukehren. Anzeige zu erstatten, wagte sie nicht. Sie fürchtete die Rache der Zuhälter.
Doch wer sind die Freier, die Dienste von Frauen in Anspruch nehmen, die unter Zwang arbeiten? Über die Kundschaft wird nur selten gesprochen. Judith M.*, eine Mitarbeiterin bei Freija, sagt dazu: »Im gesellschaftlichen Diskurs liegt der Schwerpunkt meist auf dem Angebot der Frau und weniger auf der Nachfrage des Mannes, die den Markt bestimmt.« Statistisch suchten täglich eine Million Männer in Deutschland eine Prosti­tuierte auf. »Aber über die Freier kann ich nicht viel sagen«, stellt Judith M. fest. Sie ist häufig nachts auf dem Straßenstrich unterwegs und sucht das Gespräch mit den Frauen. »Die Freier bleiben im Dunkeln, in ihren Autos, ungesehen und unerkannt, ihre Motive bleiben versteckt.« Doch so viel kann sie sagen: Auf dem Straßenstrich würden die Freier immer brutaler und verlangten immer mehr für immer weniger Geld. Viele Frauen beklagten sich über gewalttätige Männer. »Der Straßenstrich zieht eine besondere Klientel an«, berichtet die Mitarbeiterin, »denn hier sind oft Frauen vertreten, die aus Perspektivlosigkeit handeln und vieles in Kauf nehmen.«
Doch manchmal verständigen auch Freier die Hilfsorganisationen. Männer, die sich mit Hinweisen meldeten, träfen die betroffenen Frauen jedoch meist in Bordellen oder Wohnungen und nicht auf dem Straßenstrich. Werde deutlich, dass die Frau unter Zwang handelt, gäben diese Männer Hilfe zum Ausstieg. »Wir wollen daher die Freier nicht grundsätzlich kriminalisieren, sondern sensibilisieren«, sagt Judith M.

Gerüchte besagen, dass auch EU-Parlamentarier in Strasbourg zu den Freiern gehören. Vor zwei Jahren wies die FDP-Abgeordnete Silvana Koch-Mehrin öffentlich darauf hin, dass die Straßen zum Parlament an Sitzungstagen bevölkert seien mit Prostituierten, deren Dienste von Abgeordneten in Anspruch genommen würden. Ihre Kollegen waren nicht sonderlich begeistert über den Hinweis. Die Parlamentarier straften Koch-Mehrin ab, als Vize-Präsidentin des Europapar­laments wurde die Deutsche nur knapp wiedergewählt. Auf Anfrage wollte sie sich nicht mehr zu dem Thema äußern.
Isabelle Collot von der französischen Hilfsorganisation »Le Nid« ist jedoch nicht der Ansicht, dass EU-Abgeordnete eine bedeutende Rolle als Kunden spielen. »Viele fragen danach, aber das ist nicht die Realität«, sagt sie. Die Freier kämen aus allen Schichten. Wer die Freier sind, spielt für die Frauen auf dem Straßenstrich in Strasbourg keine Rolle. Die meisten sind desillusioniert, die Brutalität und die Überwachung zermürben sie. Die 19jährige Irina aus Rumänien etwa sagt: »Hat ein Mann Interesse an einer Frau, kann er helfen, klar. Aber den meisten Männern sind wir egal.«

* Vollständiger Name der Redaktion bekannt