Über die Energiedebatte in Deutschland

Atomlobby unter Liebesentzug

Seit der Atomkatastrophe in Japan fällt der Atomlobby hierzulande das Werben für die Kernenergie immer schwerer. Auf der Industriemesse in Hannover wurde die Branche der erneuerbaren Energieanbieter, auch von der Bundeskanzlerin gelobt.

Nicht nur die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz standen im Zeichen der Auseinandersetzung um die Atomkraft. Auch in ihrer Eröffnungsrede zur Hannover Messe, die vorige Woche stattfand, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Energie zum »Kernthema«. Dass bei der weltweit größten Industriemesse in diesem Jahr der Gewinnung von erneuerbarer Energie eine große Bedeutung zugemessen wurde, konnte man nicht nur anhand der zahlreichen Veranstaltungen zu diesem Thema erkennen, sondern auch daran, dass die Branche der Unternehmen, die regenerative Energie bereitstellen, einen eigenen Pavillon mit einer imposanten Ausstellungsfläche von 14 000 Quadratmetern zur Verfügung hatte. Ausgerechnet Frankreich, das fast 80 Prozent seines Energiebedarfs mittels der Atomenergie deckt, war in diesem Jahr das Partnerland der Messe. Merkel ließ es sich nicht nehmen, in Anwesenheit des französischen Premierministers François Fillon nochmals das Atom-Moratorium der Bundesregierung zu verteidigen, und rief zum »rascheren Ausbau der erneuerbaren Energien« auf. Wer hier Widerspruch seitens der Vertreter der Atomenergiekonzerne erwartet hatte, wurde enttäuscht. Auch Hans-Peter Keitel, der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), wies eindringlich auf diesen »Zukunftsmarkt« hin und mahnte mehr staatliche Investitionen in die dafür erforderlichen Technologien an.

Die Frage, ob es sich beim Moratorium um ein Ablenkungsmanöver der Bundesregierung handelt, ist weiterhin ungeklärt. Schließlich hatte schon der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl eine Überprüfung der deutschen Atomkraftwerke angeordnet. Zu einer neuen Ausrichtung der Energiepolitik kam es damals nicht. Die erst im September erfolgte Verlängerung der Laufzeiten durch die Bundesregierung und ihr Beschluss, die Einspeisevergütung für Solarstrom zu reduzieren, scheinen dafür zu sprechen, dass es sich um ein Ablenkungsmanöver handelt. Und die Atomlobby hat nach wie vor mächtige Fürsprecher in den Koalitionsparteien wie beispielsweise Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP), der zuletzt auf einer Sitzung des BDI das Moratorium als kurzfristige Wahltaktik dargestellt hatte. Jürgen Großmann, der Vorsitzende von RWE, gilt als Vertrauter von Michael Fuchs (CDU), der stellvertretender Fraktionsvorsitzender im Bundestag ist. Dass es um die Kontakte zu den rot-grünen Oppositionsparteien ebenfalls nicht schlecht bestellt ist, weiß man spätestens, seit mehrere ehemalige Minister der damaligen Koalition gut bezahlte Stellen in der Energiewirtschaft angetreten haben.

Durch die Konzentration auf die Atombranche gerät häufig die Erfolgsgeschichte ihrer Konkurrenten aus der Sparte der erneuerbaren Ener­gien aus dem Blick. So sind beispielsweise auf der Hannover Messe 350 deutsche Unternehmen aus dieser Branche vertreten, das ist eine Verzehnfachung gegenüber der Zahl vor fünf Jahren. »Dieses Wachstum hat kaum ein anderer Ausstellungsbereich realisiert«, sagte Hubertus von Monschaw, der für die Messe die Abteilung leitet, die für den Bereich Energie zuständig ist. Im vergangenen Jahrzehnt ist der Gesamtumsatz der Branche von knapp sieben auf über 37 Milliarden Euro gewachsen. Auch in diesem Jahr wird die Branche etwa 5,5 Milliarden Euro investieren, und die Tendenz ist weiterhin steigend. Eine aktuelle Befragung von Unternehmen, die das Forschungsinstitut EuPD Research gemeinsam mit dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie und dem Deutschen Cleantech-Institut im Auftrag des Bundesverbandes Erneuerbare Energie (BEE), der Agentur für Erneuerbare Energien und der Hannover Messe durchgeführt hat, kommt zu dem Ergebnis, dass diese in den kommenden Jahren bei deutlich über sechs Milliarden Euro liegen werden. »Die Branche der Erneuerbaren liefert nicht nur Technik und Know-how für einen schnellen Atomausstieg und die notwendige Energiewende. Sie stärkt darüber hinaus den Standort Deutschland mit Milliarden­investitionen in Produktionskapazitäten und in die Forschung. Damit sichert sich Deutschland weiterhin eine Spitzenposition im weltweiten Wettbewerb um grüne Technologien«, sagte BEE-Geschäftsführer Björn Klusmann bei der Vorstellung der Studienergebnisse in Berlin. Die meisten der befragten Unternehmen rechnen mit einem Umsatzzuwachs von teilweise deutlich über zehn Prozent.
Das Besondere an der Studie ist, dass sie bereits im Februar, also vor der Katastrophe in Fukushima, angefertigt wurde. Zu Beginn des Jahres hatten die Auftragseingänge der Branche im Vergleich zum Vorjahr um 38 Prozent zugelegt, berichtete der Branchenverband VDMA. Nach der Havarie des japanischen Kernkraftwerkes erhöhte der Verband die Erwartungen hinsichtlich der Produktionssteigerungen seiner deutschen Unternehmen für das Jahr 2011 nochmals von zehn auf 14 Prozent. Auch auf dem Arbeitsmarkt könnte sich dies niederschlagen. In der BEE-Studie heißt es dazu: »Schon heute arbeiten in Deutschland insgesamt rund 370 000 Menschen im Bereich der Erneuerbaren Energien. Mit den Investitionen der kommenden Jahre werden weitere sichere Arbeitsplätze entstehen. Damit werden die Erneuerbaren Energien immer wichtiger für den deutschen Arbeitsmarkt.«

Wenig überraschend ist, dass sich dieser Trend derzeit auch an der Börse bemerkbar macht. Nach den japanischen Katastrophenmeldungen war der Öko-Dax, ein Börsenbarometer für zehn Titel aus dem Sektor der regenerativen Energie, um knapp 30 Prozent gestiegen. Marco Cabras, Sprecher der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), sprach in diesem Zusammenhang von einem »Megatrend« und konstatierte, »der Druck, die Nutzung erneuerbarer Energien weiter auszubauen«, sei noch gestiegen. Nach den Ergebnissen der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz konnten Hersteller von Solar- oder Windkraftanlagen wie Solarworld, Conergy, Nordex oder PNE Wind nochmals zwischen acht und 14 Prozent zulegen.
Hinzu kommt die Verunsicherung, die die Atombranche ergriffen hat. Während die neue baden-württembergische Landesregierung, die 45,01 Prozent Anteile an EnBW hält, angekündigt hat, den Atomkonzern in den Bereich der erneuerbaren Energien führen zu wollen, möchte Deutschlands größter Energieversorger Eon künftig 2,6 Milliarden in die Verstärkung seiner Windenergie-Sparte investieren und den Konzern langfristig umstellen. »Keiner ist hier, der dem Satz widerspricht: Ausstieg aus der Atomenergie so früh wie möglich«, sagte Johannes Teyssen, der Vorstandsvorsitzende von Eon in Hannover. Siemens scheint gar zu planen, sich vollständig von der Atomkraft verabschieden. Nachdem der Konzern bereits im März aus dem Joint-Venture mit dem staatlichen französischen Atomkonzern Areva ausgestiegen ist, möchte er nun auch seine Kooperation mit dem russischen Konzern Rosatom beenden, wie die Financial Times Deutschland berichtete. Derzeit setzt nur noch der Energiekonzern RWE vorbehaltlos auf die Atomkraft. Im Hinblick auf die vom Konzern angestrengte Klage wegen des Moratoriums sagte RWE-Manager Fritz Vahrenholt im Gespräch mit der Welt, es stehe zu befürchten, dass im Fall einer Entscheidung gegen die Atomkraft in Deutschland »Industriebetriebe und vielleicht sogar ganze Städte abgeschaltet werden müssen«.
Eine echte Offensive der Atomwirtschaft sähe vermutlich anders aus. Derzeit kann man den Eindruck gewinnen, dass die Lobbyisten der regenerativen Energieunternehmen einflussreicher sind. Ihr hochrangiger Funktionär, Dietmar Schütz vom BEE, absolvierte in den vergangenen Wochen eine wahre Werbetournee, die ihn auch zu den Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP führte. Und sein Credo trifft den Zeitgeist. »Bis 2020 können die erneuerbaren Energien 47 Prozent der deutschen Stromversorgung sichern«, teilt sein Verband mit und verweist darauf, dass erneuerbare Energien »einen Atomausstieg, wie er bis vor kurzem gesetzlich verankert war, vollständig kompensieren« würden. Studien wie »Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation«, die Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) kürzlich von Regierungsberatern vorgelegt wurde, stützen diese Einschätzung. Und ganz nebenbei geht es natürlich auch um staatliche Subventionen für die Branche. Denn Berechnungen der Deutschen Energie-Agentur zufolge wären für den Ausbau der Infrastruktur und für den schwer zu bewältigenden Transport der im Norden Deutschlands gewonnenen Energie in die industriellen Zentren im Süden in den kommenden Jahren Investitionen von bis zu 25 Milliarden Euro notwendig.
Trotz dieses Volumens erscheint eine Wende bei der Energiegewinnung derzeit jedoch wahrscheinlicher als jemals zuvor. Jürgen Becker, Staats­sekretär im Bundesumweltministerium, verkündete, die acht abgeschalteten Atomkraftwerke würden »definitiv nicht wieder hochgefahren werden«. Im Hinblick auf die restlichen neun AKW sprach er von einer Laufzeit »bis zum Ende des Jahrzehnts«. Und grundsätzlich widerspricht ihm kein Spitzenpolitiker. Röttgen und die FDP streiten derzeit lediglich über die Perspektiven der Atompolitik bis zum Jahr 2020. Die Taz prognostizierte, Röttgen »könnte seine rot-grünen Vorgänger übertrumpfen«.

»Wirtschaftsfeindlich«, wie sich einige Manager der Atomkonzerne zuletzt beschwerten, ist diese Politik aber keinesfalls. Das Magazin Markt und Mittelstand gelangte bei Berechnungen zu dem Ergebnis, dass eine energiepolitische Wende der deutschen Wirtschaft zusätzliche Aufträge in einem Umfang bis zu 65 Milliarden Euro bescheren könnte. Aber auch weltweit könnten die deutschen Unternehmen von der »Pionierrolle« Deutschlands beim Ausstieg aus der Atomkraft profitieren. Ihre Position könnte sich wegen des Erfahrungsvorsprungs und des gigantischen Investitionsvolumens auf dem deutschen Markt verstärken. Zuletzt war der Branche vor allem im Bereich der Solarenergie erhebliche Konkurrenz von chinesischen Firmen gemacht worden, während bei der Nutzbarmachung der Windenergie »die deutschen Hersteller noch einen großen Vorsprung haben«, wie der Analyst Mario Kristl von der DZ Bank im Gespräch mit dem Spiegel erklärte. In den kommenden zwei bis drei Jahren hätten die deutschen Anbieter aber insgesamt wenig zu befürchten, sagte Kristl. Die Wende in der Energiepolitik wäre dabei für eine Verlängerung dieser Frist sehr förderlich. Es scheint, als sei die Atomlobby ausgerechnet von ihrer Wunschkoalition ins Abseits geschoben worden.