Wie der Premierminister Luxemburgs die EU retten will

Bokassa, der letzte Europäer

Er hat es mal wieder geschafft. Jean-Claude Juncker, Luxemburger Premierminister und Vorsitzender der Euro-Gruppe, gilt als das Gewissen Europas und liest Angela Merkel die Leviten. Doch geht es Juncker tatsächlich nur um das Wohlergehen der Europäischen Union?

»Wenn einer der letzten verbliebenen Europäer wie Jean-Claude Juncker wirklich dafür kämpft, die Währungsunion zu retten, wäre es das Mindeste, seine Vorschläge sorgfältig zu prüfen, anstatt sie unbesehen zu verwerfen«, sagte Cem Özdemir, der Bundesvorsitzende der Grünen. Er bezog sich damit auf Junckers Vorschlag, europäische Anleihen, sogenannte Euro-Bonds, einzuführen, um die wirtschaftliche Stabilität der Euro-Zone zu sichern.
Aus Luxemburg betrachtet, laden solche Äußerungen eines grünen Politikers zum Schmunzeln ein. Auch wenn, wie am Dienstag voriger Woche, die EU-Parlamentarier der sozialistischen, liberalen und grünen Fraktionen sich demon­strativ hinter den Luxemburger Premierminister stellen, entbehrt dies nicht der Ironie. Denn Juncker und Bundeskanzlerin Angela Merkel verbindet mehr als die Zugehörigkeit zu konservativen Parteien. Beide sind Ziehkinder des gleichen rechten Paten: Helmut Kohl, den mit seinem »Schang-Kloht« seit Jahrzehnten eine enge Freundschaft verbindet. Für Nichtkonservative, ob in Luxemburg oder anderen Ländern Europas, hat Juncker bestenfalls Spott übrig.

Doch um die wirklichen Beweggründe Jean-Claude Junckers zu verstehen, um herauszufinden, wieso er sich – so scheint es jedenfalls – ohne Rücksicht auf Verluste für Europa einsetzt, muss man ihn aus der Sicht seines Herkunftslandes betrachten. Luxemburg ist nicht nur der kleinste EU-Staat, er gehört auch zu den Gründungsmitgliedern der Union, und das nicht zufälligerweise. Schon lange vor der Entstehung der »europäischen Idee« hat sich das Großherzogtum immer wieder mit seinen Nachbarn zusammengetan, sei es in der Zollunion oder in der noch bestehenden Vereinigung der Benelux-Staaten.
Das Ziel solcher Bündnisse war einerseits, das eigene Überleben zu sichern, denn allzu oft wurde das kleine Land trotz seiner politischen Neutralität Opfer der Expansionswut seiner Nachbarn. Andererseits ging es auch um wirtschaft­liche Zusammenarbeit und Wertschöpfung, zuerst durch den Ausbau der Stahlindus­trie, dann der Finanzbranche. Der Hauptunterschied zur deutschen Europa-Politik ist das in Luxemburg vorhandene Bewusstsein, nicht ohne die Nachbarn überleben zu können und auf die europäische Zusammenarbeit angewiesen zu sein. Eine Differenz, die im Streit um die Euro-Bonds so deutlich wie schon lange nicht mehr zutage tritt.
Dieses Abhängigkeitsbewusstsein prägt die luxemburgische Politik, die seit 1919 fast ausschließlich von Junckers konservativer Partei, der Christlich-Sozialen Volkspartei (CSV), bestimmt wird. Der Premierminister setzt lediglich fort, was seine Vorgänger, darunter der skandalgeplagte ehemalige Premierminister und EU-Kommissionspräsident Jacques Santer, getan haben: die europäische Integration als Modellstaat voranzutreiben.
Doch Juncker ist anders als seine Vorgänger. Er kann als populärster der luxemburgischen konservativen Machthaber gelten. Der ausgebildete Jurist, der nie als Anwalt gearbeitet hat, verstand sich von Anfang an als Berufspolitiker. Als 28jähriger wurde er zum ersten Mal Abgeordneter, gleich darauf Staatssekretär und Finanzminister (ein Posten, den er immer noch innehat) und schließlich 1995 Premierminister. Er ist der dienstälteste Regierungschef in der EU.
»Bokassa« nannte ihn die luxemburgische Satirezeitschrift Den Neie Feierkrop, da er, wie der einstige Diktator, der sich in der Zentralafrikanischen Republik zum Kaiser gekrönt hatte, so sehr von sich eingenommen sei, dass er es für undenkbar hält, jemand könne ihn ersetzen. Mit anderen Worten: Nicht der Großherzog ist der echte Mo­narch in Luxemburg, sondern Juncker. Er setzt sich gerne über Regeln und Konventionen hinweg, beleidigt inbrünstig die Lokalpresse, wenn er sich missverstanden fühlt, und kann es sich etwa einst Franz-Josef Strauß erlauben, auch mal sturzbetrunken im Fernsehen aufzutreten.

Die Luxemburger lassen Juncker so ziemlich alles durchgehen, solange er nur bleibt. So schreckte er 2005 auch nicht davor zurück, mit seinem Rücktritt zu drohen, falls die Bevölkerung sich erdreisten sollte, die EU-Verfassung beim Referendum abzulehnen – und es funktionierte. Ohne den Personenkult, der um Juncker betrieben wird, würde seine Partei CSV drastische Stimmenverluste hinnehmen müssen. Sie könnte nach Jahrzehnten erstmals die Regierungsmacht verlieren. Denn keiner seiner Sekundanten ist populär genug, um ähnliche Wahlergebnisse zu erzielen.
Junckers zweites Problem ist sein Ehrgeiz in der europäischen Politik. Seit er 1996 den Kompromiss von Dublin, eine Einigung über den sogenannten Stabilitätspakt der EU, vermittelte und von vielen Medien als »Held von Dublin« gefeiert wurde, scheint das beschauliche Luxemburg ihm zu eng geworden zu sein. Doch auch er weiß, dass seine Beliebtheit in der Brüsseler Kommission und anderen EU-Institutionen nicht nur auf sein Rede- und Verhandlungsgeschick zurückzuführen ist. Sie ist auch eng mit seiner Herkunft verknüpft. Einem Zwergstaatler wird eben eher über den Weg getraut, denn er erscheint unverdächtig, nationale Interessen durchsetzen zu wollen.
Seine Amtszeit als Vorsitzender der Euro-Gruppe, des Gremiums zu Koordinierung der Wirtschaftspolitk in der Euro-Zone, wurde zum dritten Mal verlängert. Im Ausland wird er mit den Auszeichnungen mehr oder weniger obskurer Institute wie dem Preis der Fasel-Stiftung überhäuft. Doch dies alles kann ihn wohl kaum darüber hinwegtrösten, dass die europäische Ratspräsidentschaft an den belgischen Christdemokraten Herman van Rompuy ging.

Denn seit der Finanzkrise gilt Luxemburg nicht mehr als Musterland der EU, sondern als »Steueroase« und somit als eine Art Schurkenstaat. Was die anderen EU-Staaten über Jahre hinweg billigten, ist auf einmal zum Problem erklärt worden. Die Attacken aus Frankreich und Deutschland häuften sich dermaßen, dass Juncker und andere Politiker sich dazu gezwungen sahen, Kompromisse bei der Verfolgung von Kapitalflucht einzugehen und aggressiver gegenüber dem Ausland aufzutreten.
Ein weiterer Grund, eisern an der EU festzuhalten, ist die Großregion. Die angrenzenden Gebiete in Deutschland, Belgien und Frankreich bilden mit Luxemburg eine ökonomische Einheit, es gibt eine gegenseitige Abhängigkeit. Ohne die geschätzten 150 000 Grenzgänger, die jeden Tag im Großherzogtum ihrer Arbeit nachgehen, wäre Luxemburg nicht funktionsfähig und die ohnehin schon strukturschwachen Grenzregionen, zumal in Lothringen und Wallonien, würden noch ärmer werden.
Daher kann und muss es Luxemburg egal sein, ob es mit den Euro-Bonds Risiken eingeht. Der Reichtum des luxemburgischen Staates allein reicht nicht als Existenzbegründung aus, weder die niedrige Staatsverschuldung noch das hohe Pro-Kopf-Einkommen. Deshalb haben die luxemburgischen Politiker ein Interesse an der europäischen Integration und daran Debatten in anderen EU-Staaten über die Abschaffung des Euro oder gar den Austritt aus der Union möglichst sofort abzuwürgen. Denn eines wissen sie sicher: Luxemburg braucht die EU zum Überleben. Und die Frage, ob die EU Luxemburg braucht, wollen sie gar nicht erst aufkommen lassen.