Jesus wählt mit. Wahlkampf in Brasilien

Jesus wählt mit

Zweifel an ihrem Glauben haben Dilma Rousseff, der Präsidentschaftskandidatin der brasilianischen Arbeiterpartei, geschadet. Im Wahlkampf werden vor allem religiöse Themen debattiert.

»Nicht einmal Christus kann mir diesen Sieg noch nehmen.« Diesen Satz soll Dilma Rousseff, die Präsidentschaftskandidatin der Arbeiterpartei (PT), in einem Interview gesagt haben. Sie wurde deshalb der Blasphemie bezichtigt. Es existieren keine Aufzeichnungen des Gesprächs, und Rousseff dementiert heftig, sich in dieser Weise geäußert zu haben. Doch hat das vermeintliche Zitat offenbar dazu beigetragen, dass sie sich einer Stichwahl stellen muss.
Noch im September hatten alle Meinungsforschungsinstitute der Wunschkandidatin des amtierenden Präsidenten Luiz Inácio »Lula« da Silva eine absolute Mehrheit prophezeit. Ihr Sieg schien sicher, doch am Wahlabend des 3. Oktober erhielt sie nur knapp 47 Prozent, zur abso­luten Mehrheit fehlten ihr schließlich acht Millionen Stimmen.
Der Grund dafür waren nicht allein die Zweifel an der Religiosität der PT-Kandidatin. Zwei Wochen vor der Wahl hatte sich die Regierung gezwungen gesehen, Erenice Guerra, Rousseffs Nachfolgerin als Stabschefin des Präsidenten, zu entlassen. Guerra war die Beteiligung an korrupten politischen Geschäften nachgewiesen worden.

Der von den brasilianischen Medien »Erenicegate« genannte Skandal trug auch zum Erfolg von Marina Silva bei. Die Kandidatin der Grünen Partei (PV) gilt als unbestechlich. Nach sechs Jahren als Umweltministerin hatte sie Anfang 2008 ihren Rücktritt eingereicht. Sie bekäme für ihre Umweltpolitik zu wenig Unterstützung von der Regierung, sagte sie damals.
Nicht zu leugnen ist, dass Präsident Lula sich vor allem in seiner zweiten Amtszeit auf die Förderung von industriellen Großprojekten konzen­triert hat. Umweltpolitik wurde von den meisten Mitgliedern der Regierung – aber auch von einem großen Teil der Bevölkerung – nur noch als Anti-Industriepolitik gesehen. Es fiel Marina Silva immer schwerer, ihren ehrgeizigen »Nachhaltigkeitsplan für Amazonas« (PAS) zu verwirklichen. In den Jahren 2003 bis 2006 wurden insgesamt 24 Millionen Hektar Regenwald unter Naturschutz gestellt, 2007 waren es nur noch 300 000 Hektar.
Die ehemalige Umweltministerin kam auf mehr als 19 Prozent der Stimmen und gilt als eigentliche Gewinnerin der Wahlen. Doch nicht ihre grüne Politik war ausschlaggebend, im Wahlkampf war Ökologie allenfalls ein Randthema. Entscheidend war ihre Mitgliedschaft in der Assembleia de Deus.

Die Assembleia de Deus ist aus der US-amerikanischen Pfingstbewegung hervorgegangen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Brasilien zu missionieren begann, und wurde zur größten der zahlreichen evangelikalen Freikirchen in Brasilien. Mit offiziell acht Millionen Mitgliedern stellt sie mehr als die Hälfte der organisierten Pfingstbewegung. Im Parlament haben diese sogar eine eigene Interessengruppe, die Evangelische Parlamentarische Front. Bei den Wahlen Anfang Oktober sind 28 Mandate hinzugekommen, mit nunmehr 71 Abgeordneten ist die Front eine nicht zu unterschätzende Gruppe.
In Brasilien ziehen mittlerweile Gay-Pride-Paraden mehrere Millionen Menschen an, der Einfluss der Religion schien geringer zu werden. Eigentlich, sagt Edin Abumanssur von der katholischen Universität in São Paulo, spiele Religion in der brasilianischen Politik eine untergeordnete Rolle, zumindest im Vergleich mit den USA. Die Religion sei nur ein Vorwand, um unliebsame Kandidaten zu attackieren.
Das kann man allerdings auch manchen christlichen Rechten in den USA unterstellen. Eine dem Tea Party Movement vergleichbare Massenbewegung gibt es in Brasilien jedoch nicht. Es sind eher die konservativen Priester und Pastoren, die ihre Schäflein vor sich hertreiben. Ein Grund für die Wut der Geistlichen ist der Nationale Plan der Menschenrechte (PNDH), der bereits 2006 die erste Kammer des Parlaments passiert hat und seitdem auf die Bestätigung durch den Senat wartet. Viele evangelikale Geistliche halten ihn für einen Angriff auf ihr Konzept der Familie. Der Plan sieht u.a. gleichgeschlechtliche Partnerschaften vor und gewährt Homosexuellen das Recht, Kinder zu adoptieren. Vor allem stellt er sexuelle Diskriminierung unter Strafe. Geistliche, die Homo­sexualität für eine »Sünde« halten, sehen darin eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Antônio Flávio Pierruci von der Universität São Paulo spricht von »politisch konservativen Geistlichen der religiösen rechten Bewegung«, die in den Kirchen nun gegen Abtreibung predigen.
Rousseff hatte im Jahr 2007 bekannt: »Ich glaube, es muss eine Entkriminalisierung der Abtreibung geben.« Zwei Jahre später sagte sie: »Ich bin in der Frage der Abtreibung für eine öffentliche Gesundheitspolitik.« In einem Land, in dem jede fünfte Frau schon einmal abgetrieben hat und nach Schätzungen der Regierung pro Jahr 70 000 Frauen an den Folgen illegaler Schwangerschaftsabbrüche sterben, wäre eine solche Politik dringend notwendig. Auch die Sozialdemokraten (PSDB), deren Kandidat José Serra 33 Prozent der Stimmen gewann, hatten in den neunziger Jahren verschiedene Gesetzesinitiativen zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen eingebracht.

Nun aber erklärt sich Serra wie selbstverständlich zum Abtreibungsgegner und verspricht, sich fortan um »Babys zu kümmern, schon vor ihrer Geburt«. Im Wahlkampf sagte er, die Entkriminalisierung der Abtreibung würde zu einem »wahrhaften Gemetzel« führen. Die Kandidatin der Arbeiterpartei »tötet gerne kleine Kinderchen«, behauptete seine Frau Mônica. Serras Partei, die für niedrigere Einkommensschichten kein Sozialprogramm bietet, will offenbar mit konservativem Populismus Wählerstimmen gewinnen.
Dilma Rousseff sah sich gezwungen zu reagieren, sie bezeichnete sich als Opfer einer »Verleumdungskampagne«. Die Frage der Abtreibung bleibe für sie zwar ein Problem der öffentlichen Gesundheit, sie persönlich sei aber strikt gegen den Schwangerschaftsabbruch. Doch dieses Bekenntnis half ihr nicht, vielmehr kann die Opposition ihr jetzt auch noch Prinzipienlosigkeit vorwerfen. Von ihren früheren Äußerungen über Abtreibung existieren nämlich durchaus Aufzeichnungen.
In der zweiten Phase des Wahlkampfs geht es nun um den Glauben und die Abtreibung. Marina Silva konnte davon profitieren, dass die anderen Kandidaten sich zu religiösen und moralischen Fragen nicht äußerten. Geschickt hatte sie es verstanden, eine Lücke zu besetzen und Gerüchte, die sich im Internet schnell verbreiteten, aufzunehmen oder auch, wie ihre Gegner behaupten, zu streuen. Ehemals laizistische Politiker versuchen, sich gegenseitig an Religiosität zu übertreffen. Zur Stichwahl tritt Silva nicht an, aber sie bestimmte das Thema des Wahlkampfs.
Der PSDB profitiert von der Thematisierung der Religion, Meinungsforscher glauben, dass die Partei fünf Prozent der Wähler hinzugewinnen könnte. Bereits im Jahr 1985 hatte der damalige Senator Fernando Henrique Cardoso die Wahl zum Bürgermeister von São Paulo verloren, weil er in einer Fernsehdebatte auf die Frage, ob er an Gott glaube, nur sehr ausweichend geantwortet hatte. Zehn Jahre später wurde er jedoch zum Präsidenten Brasiliens gewählt. Am 31. Oktober wird sich zeigen, ob Dilma Rousseff sich im Hinblick auf die Intervention Christus’ getäuscht hat.