Ein jeder nehme nur ein Kreuz

Man sollte meinen, die Warnung sei deutlich genug: »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.« Bis zum zweiten Gebot sollte eigentlich auch der bildungsfernste Politiker und Journalist gekommen sein. Dennoch vergeht kein Tag, an dem nicht wenigstens einer von ihnen aus niedrigen Motiven den Namen des Herrn missbraucht. Kaum einer versäumt die Chance, bei dieser Gelegenheit auch seine profunde Unkenntnis der christlichen Geschichte und Theologie unter Beweis zu stellen.
»Martin Luther hätte schlechte Karten, wollte er sich in diesem Herbst um den vakanten Posten des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland bewerben«, beklagt etwa Thea Dorn in der Zeit. Viele würden noch nicht einmal mit ihm reden: »Der Vertreter des Zentralrats der Juden hätte abgesagt, weil er nicht mit einem ausgewiesenen Antisemiten an einem Tisch sitzen wolle.« Ja, diese Sensibelchen geben immer noch keine Ruhe, obwohl die Deutschen ihnen Auschwitz nun verziehen und sie in »unsere christlich-jüdische Kultur« aufgenommen haben. Doch erinnern wir uns an weiter zurückliegende Zeiten. Wen nannte Luther ein »lästerlich Lügenmaul«? Nein, nicht den osmanischen Sultan, sondern den »Papstesel«. Die türkische Invasion galt ihm als Gottesgericht über die Anhänger des »Spitzbuben zu Rom«. Bis zum Westfälischen Frieden waren die innerchristlichen Beziehungen dann ein wenig zerrüttet. Mehr als 350 Jahre später haben die meisten Deutschen noch immer nicht begriffen, dass das Christentum eine Universalreligion ist und was es mit der Religionsfreiheit auf sich hat. Einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge meinen mehr als 58 Prozent der Deutschen: »Für Muslime in Deutschland sollte die Religionsausübung erheblich eingeschränkt werden.« Grundgesetz, Erklärung der Menschenrechte – wen interessiert’s? Die Umfrage beantwortet auch die Frage, die Angela Merkel beim Kongress der Jungen Union stellte: »Was zeichnet uns als Volk aus?« Sie aber will eine neue Leitkulturdebatte führen. Jeder verständige Mensch würde, wenn er denn meint, einer Leitkultur zu bedürfen, sich zuerst überlegen, was er darunter versteht, bevor er andere damit behelligt. Sonst kann es zu Missverständnissen kommen. Wer das christliche Menschenbild nicht akzeptiere, sei »bei uns fehl am Platz«, sagte Merkel. Philipp Mißfelder, der Vorsitzende der Jungen Union, muss nun wohl die Koffer packen, denn man darf annehmen, dass Jesus ihm wegen des Satzes »Ich halte nichts davon, wenn 85jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen«, eine Watschn verpasst hätte. Doch man wird den Eindruck nicht los, dass Merkel andere Menschen gemeint hat.