Thomas Pynchon: »Natürliche Mängel«

Einfach durchziehen

Thomas Pynchon hat einen Krimi geschrieben. »Natürliche Mängel« ist unumständlich, psychedelisch und vor allem richtig groovy.

Was haben sie nur mit Thomas Pynchon gemacht? Geschätzte 300 Figuren weniger als sonst, keine endlosen Exkurse über Technik oder Esoterik und der einzige Hund in »Natürliche Mängel« kann noch nicht einmal sprechen! Da steckt doch ein Komplott dahinter, das unser Lieblingsphantom zur Übersichtlichkeit gezwungen hat! Vielleicht haben sich Pynchon-Fans, von der allgegenwärtigen Paranoia im Werk des Autors infiziert, Fragen solcher Art tatsächlich gestellt. Denn »Natürliche Mängel«, dieser stromlinienförmig konzipierte Kriminalroman, könnte voreilig als Bruch im Werk gedeutet werden. Das Schlagwort »Pynchon light« machte vor Erscheinen der deutschen Ausgabe die Runde.
Die Ermittlungen beginnen 1970 in Los Angeles. Hinter einer Bürotür mit der Aufschrift »LSD Ermittlungen«, was für Lokalisierung, Sicherheitschecks, Detektei steht. Larry »Doc« Sportello, ein notorisch von Marihuanaduft umnebelter Hippie-Schnüffler, wird engagiert, um das mysteriöse Verschwinden eines berüchtigten Immobilienhais aufzuklären. Michael Wolfmann, ein jüdischer Nazi, hatte nach Jahren der Spekulation und Landerschließung eine ideologische Kurskorrektur vorgenommen: »Ich kann es nicht fassen, dass ich mein ganzes Leben damit verbracht habe, Leute für Wohnraum bezahlen zu lassen, wo er doch kostenlos sein sollte.« Konsequenterweise investiert Wolfmann also, vermutlich zum Leidwesen ehemaliger Profiteure, in eine futuristische Alles-Umsonst-Wohnanlage in der Wüste und ist daraufhin mit seiner Partnerin, Docs Ex-Freundin Shasta Fay Hepworth, spurlos verschwunden. Als schließlich ein Agent und Mitglied der rechtsextremen Schlägertruppe »Kalifornien, erwache!« ermordet wird, das LAPD in Person des Hippiehassers Bigfoot Bjornsen üble Machenschaften zu decken scheint, ein Haufen weißer Zahnärzte auftaucht und ein rätselhaftes Schiff namens »Goldener Fang« seine Runden dreht – tja, da verknäult sich die Geschichte schließlich doch, und Doc, mit einem »Weißafro von knapp 50 Zentimeter Durchmesser«, versinkt in einem vieldeutigen Durcheinander.
»Endlich!«, freuen sich Pynchon-Anhänger, die sich aus Literatur-Nerds, den Freunden vielteiliger Puzzles, Trekkis und Akte-X-Liebhabern zusammensetzen. »Doch noch etwas zu entwirren!« Und schon beginnt der Versuch, »Natürliche Mängel« in Pynchons Erzähltradition einzupassen. Tatsächlich drängen sich Vergleiche beispielsweise zu »Die Versteigerung von No. 49«, Pynchons erstem »kalifornischen« Roman, förmlich auf: Protagonistin Oedipa Maas, die als Testamentsvollstreckerin eines Ex-Lovers auf den Weg geschickt wird, entwickelt sich auf ihrer Reise durch Kalifornien selbst zu einer Detektivin, die aus einem Gewirr von (autonomen?) Zeichen Zusammenhänge konstruiert, um eine Spur zu erkennen. Doc und Oedipa sind sich insofern ähnlich, als dass beide möglicherweise nur bedingt zu logischen Schlussfolgerungen fähig sind – Oedipas Kombinationen könnten von Paranoia befeuert sein, Docs vom kiloweisen Weed-Konsum getrübt, auch wenn er diesen natürlich gekonnt zu rechtfertigen weiß: »Aber was ist mit Sherlock Holmes, der hat die ganze Zeit gekokst, Mann, das hat ihm geholfen, Fälle zu lösen.«
Stimmt auch wieder. Der Berufsstand des Privatdetektivs zeichnet sich bekanntlich seit jeher durch massive Rauschmittelaffinität und Spezialistentum aus. Irgendeine Leibdisziplin hat schließlich jeder literarische Zielfahnder. Entweder er kann kombinieren, oder er kann zuschlagen. Oder, wie bei Philip Marlowe und Lew Archer: beides. Sie handeln logisch und verteilen Faustduschen. Und Pynchon? Pynchon orientiert sich an den moralisch zweifelhaften Prototypen kalifornischen Zuschnitts und ersetzt den Pulvernebel rauchender Colts durch dichte Weed-Wolken. Die natürlich machen Doc etwas lahm und vergesslich, seine Spezialität besteht lediglich darin, easy zu bleiben. Wäre da nicht diese unbestechliche Spürnase, die bei Verdacht zu laufen beginnt. Allgemein aber bewegt sich Doc nicht sonderlich zielsicher durch die Geschichte und ist von tapsigen Taugenichtsen, Träumern und Durchgeknallten umgeben.
Ja, Doc Sportello ist also durchaus identifikationsfähig. Im Werk des Autors eine echte Neuerung, war Pynchon doch die letzten 40 Jahre (beinahe) ausschließlich damit beschäftigt, über Tausende Seiten hinweg ganze Dynastien flachster Charaktere zu konstruieren. Als Vertreter des Lesers übernimmt Doc das Kombinieren, in genretypischen Fragesätzen wird rekapituliert und Bilanz gezogen. Das konsequente Anknüpfen an die literarischen Entwicklungen des Krimis bringt eine weitere Neuerung mit sich. Denn merke: Wo keine Kausalkette von Leiche und Rekonstruktion der Tat, da kein Krimi!
Zwar hatte sich Pynchon schon seit »Die Enden der Parabel« davon verabschiedet, jegliche Plotbildung zu verweigern – »Gegen den Tag«, das Vorgängerwerk, weist sogar eine überraschend chronologische Erzählweise auf. Dennoch pflügte man sich in diesem 1 600 seitigen Buch durch verschiedene Genres und eine Spielwelt, in der sich hemmungslos überfüllt und unübersichtlich Materialien der Fiktion und Wirklichkeit vermengen.
»Natürliche Mängel« scheint dagegen übersichtlich zu sein. Die Statisterie ist zwar nicht ausnahmslos fest in den Plot eingebunden, dafür jedoch zählbar. Handlungort ist nicht die Welt, sondern lediglich ein Bundesstaat, ein konkreter, historischer Ort.
»Willkommen in einer Welt der Unannehmlichkeiten«, sagt Bigfoot Bjornsen, denn die Atmosphäre kippt. Docs Los Angeles der Kifferhöhlen, Surfmusiker und endlosen Doper-Partys verliert seine Unschuld, die Tage von Flower Power sind gezählt. Vietnam, der Aufstand von Watts, Heroin, der Angriff der Polizei auf friedliche Antikriegsdemonstranten in Century City, der Mord an zwei Panther-Führern auf dem UCLA-­Campus durch nationalistische Gruppen, Reibereien zwischen Eigenheimbesitzern und Developern, Charles Manson und immer wieder Manson, der die »Cops« zum nervösen »Vibrieren« bringt. »Natürliche Mängel« integriert historische Ereignisse, verdichtet den neuen Spirit der Stadt, des ganzen Landes vielleicht, und bezieht Konflikt- und Spannungslinien satirisch ein.
Großartig! Endlich gehen Sittengemälde und Fun mal zusammen! Wann haben wir uns das letzte Mal so amüsiert? Na, bei »Gegen den Tag« wahrscheinlich. Denn die untypische Enträtselungsgeschichte von »Natürliche Mängel« ist bevölkert von Figuren gewohnt pychonesquer Überzeichnung, die Ereignisse sind häufig skurril bis absurd. Bigfoot Bjornsen, der mit seinen »beknackten Koteletten« und dem »dämlichen Schnurrbart« aussieht, als sei er aus dem berühmten Sabotage-Video der Beastie Boys gefallen; trottelige Zuhälter, Rocker, die auf ihren Motorrädern grundlos im Kreis fahren; Postkarten, die mit Katapulten zugestellt werden, all die unzurechnungsfähigen Typen im Dienste der Gerechtigkeit, die Filmverweise, albernen Songtexte, parodistisch überzeichneten Dialoge – kurz: Man darf sich wieder einlassen, auf eine ganz normale Freakshow in einer Welt zwischen Sam Spade, The Big Lebowski, den Freakbrothers und Herbert Marcuse. Mag es auch auf den ersten Seiten anders erscheinen: Bitte vergessen Sie niemals, »dass Charles Manson und der Vietcong ebenfalls Charlie heißen.« Irgendwas hat es bestimmt zu bedeuten.

Thomas Pynchon: Natürliche Mängel. Rowohlt Verlag, Hamburg 2010, 480 Seiten, 24,95 Euro