Über die Probleme der Piratenpartei mit der Liquid Democracy

Furcht vor Transparenz

Die Piratenpartei streitet über die Einführung der sogenannten Liquid Democracy. Auch das Verhältnis zu einzelnen Parteimitgliedern gestaltet sich schwierig. Gegen Bodo Thiesen läuft ein Ausschlussverfahren, trotzdem mischt er sich weiter in parteiinterne Angelegenheiten ein.

Wenn am 11. September in Berlin die Demonstra­tion unter dem Motto »Freiheit statt Angst« stattfindet, wird sich auch die Piratenpartei am Protest gegen Massenüberwachung und Sicherheitswahn beteiligen. Und damit wird sie vermutlich auch nach langer Zeit wieder in den Medien erwähnt werden. Der Hype, der nach der für die schwedische Piratpartiet so erfolgreichen Europa-Wahl auch für den deutschen Ableger eingesetzt hatte, ist schließlich spätestens seit dem mäßigen Ergebnis bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr vorbei.

Die Piraten erleben nun das, was für Kleinparteien Alltag ist. Ihre Statements zu aktuellen politischen Themen werden in den Medien kaum mehr erwähnt, von regelmäßigen Auftritten im Fernsehen können sie nur träumen. Dabei haben die Piraten Medienpräsenz derzeit dringend nötig. Sie hoffen bei den Wahlen in Berlin am 4. September 2011 ins Abgeordnetenhaus oder wenigstens in Bezirksverordnetenversammlungen ein­zuziehen. Einzelne Mitglieder erklärten bereits, dass es das dann wohl mit der Partei gewesen sein werde, wenn ihr nicht einmal die jungen Hauptstadtwähler ihre Stimme geben würden.
Das Image der Piraten ist allerdings ziemlich ramponiert. Ihr Bild in der Öffentlichkeit wird durch massive Belästigung von Kritikerinnen und Kritikern bestimmt, ebenso wie durch den Kinderpornografie-Prozess gegen den mittlerweile nicht mehr bei den Piraten aktiven Jörg Tauss.
Mit der Einführung der »Meinungsfindungs-Software« (Spiegel) Liquid Feedback Anfang August hofften die Piraten endlich wieder auf positive Schlagzeilen. Nach ersten Tests in Berlin und anderen Landesverbänden sollte das System bundesweit starten. Bei Liquid Feedback handelt es sich um eine Software zur parteiinternen Meinungsbildung. Die Mitglieder können sich mit Hilfe der Software an Debatten beteiligen, ihre Stimme via Internet abgeben oder sie an andere delegieren, denen man in einer bestimmten Frage vertraut. »Dies hat den interessanten Effekt, dass die kompetentesten und nicht die lautesten Piraten innerhalb des Systems Einfluss haben«, erklärte Christoph Lauer, politischer Geschäftsführer der Partei, gegenüber heise.de. Die Debattenbeiträge sind öffentlich im Internet zugänglich. Durch dieses System soll auch verhindert werden, dass sich die Parteiführung von der Basis entfernt. Diese Mischform aus direkter und repräsentativer Demokratie bezeichnet die Piratenpartei als »Liquid Democracy«. Der Start der Software verzögerte sich allerdings um einige Wochen wegen parteiinterner Querelen über angebliche Datenschutzprobleme der Anwendung.
Die Verzögerung verdankt die Partei ausgerechnet einer Altlast: Bodo Thiesen, dessen Rauswurf nach einer Mitgliederversammlung im Juni 2009 in Hamburg vom Vorstand beschlossen worden war. Thiesen war dort zum stellvertretenden Mitglied des Schiedsgerichts gewählt worden, obwohl zeitgleich im Internet Beweise für seine mehr als fragwürdigen Äußerungen beispielsweise über den Holocaust präsentiert worden waren (Jungle World 29/09).

Nach über einem Jahr ist Thiesen immer noch Parteimitglied und mischt sich seit einigen Monaten auch wieder verstärkt in parteiinterne Angelegenheiten ein. Als vor einigen Wochen die Mailingliste der Piraten veröffentlicht wurde, dürfte dies nicht zuletzt geschehen sein, um aufzuzeigen, wie ungehemmt er sich zu diesem und jenem äußert, und vor allem auch, wie wenig sich seine Ansichten geändert haben.
Einem besorgten Berliner Piraten, der Anfang August auf der Mailingliste davon berichtete, dass er und andere Parteimitglieder im hauptstädtischen Wahlkampf »regelmäßig auf den ›Holocaustleugner‹ (gemeint ist Thiesen, E.W.), den ›Kiposammler‹ (Tauss, E.W.) und diverse Interviews einiger BuVo-Mitglieder angesprochen wurden«, gab Thiesen im Tonfall eines elder statesman ungerührt Tipps, ohne sich von seinen Äußerungen zu distanzieren: »Zum Thema Holocaust: Holocaust ist in der Partei kein Thema, dazu Hinweis auf die Satzung und auf die Größe der Partei. Bei (damals) über tausend Mitgliedern lässt es sich nicht ausschließen, dass Personen mit merkwürdigen Meinungen in der Partei Mitglied sind, zur konkreten Person und zum konkreten Vorfall kannst Du Dich nicht äußern, da Du die Person persönlich nicht kennst. Thema erledigt.« Er selber habe an einem Infostand in Trier nie Probleme gehabt. Auf die Bemerkung, dass dort die Leute vielleicht konservativer seien als in Berlin, antwortete Thiesen: »Naja, vielleicht sind da nicht so viele linke Spinner, das kann natürlich sein.«

Linken verleiht Thiesen fast durchgängig das Attribut »Spinner«, wie auch ein paar Zeilen weiter, als der Berliner Pirat berichtet, dass im Bundestagswahlkampf Piraten-Plakate abgerissen worden seien, was sonst üblicherweise in der Hauptstadt nur mit Parteiwerbung von Nazis passiere. »Gegen linke Spinner kann man nichts machen«, lautet seine prompte Antwort.
Aber nur auf der »Aktive« genannten Mailingliste präsent zu sein, reichte Thiesen offenbar nicht. Im Wiki der Piratenpartei findet sich auch eine Bewerbung Thiesens für die Bundes-IT, ­einen Zusammenschluss von Freiwilligen, die sich um die IT-Infrastruktur wie um die parteieigenen Server kümmern.
Warum jemand, gegen den ein Ausschlussverfahren der Partei läuft, sich noch für einen Posten bewirbt, wurde Thiesen anscheinend nicht gefragt. Im Gegenteil: Das Protokoll vermerkt, dass alle Anwesenden sich für den Bewerber ausgesprochen hätten. Die Mühe, vorher im Wiki der Piratenpartei nachzuschauen, welche politischen Ansichten Thiesen bis heute vertritt, hat sich vermutlich niemand gemacht.
Denn sonst wäre man wohl über das gestolpert, was Thiesen in seiner Selbstvorstellung als die für ihn »politisch relevanten Links« angegeben hatte. Zu finden ist dort unter anderem die URL zu einem Video von Karl Albrecht Schachtschneider. Der 70jährige emeritierte Professor für Öffentliches Recht ist Esowatch zufolge »gern gesehener Rechtsbeistand in nationalsozialistischen und rechtsoffenen, verschwörungstheo­retischen Kreisen« und trat unter anderem 2005 als juristischer Sachverständiger für die NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag auf. 2009 hielt er bei einer Veranstaltung von Pro Köln einen Vortrag zum Thema »Kein Grundrecht auf den Bau von Großmoscheen«, im selben Jahr trat er auch auf einer Anti-EU-Demo der rechten Partei Bibeltreuer Christen auf. Schachtschneiders Reden werden unter anderen von der Bürgerrechtsbewegung Solidarität verbreitet, antisemitischen Verschwörungstheoretikern Interviews zu geben ist für ihn erkennbar kein Problem.
Ein weiterer, Thiesen zufolge wichtiger politischer Link führt zu http://iddd.de, der obskuren deutsch-polnischen »Initiative der direkten Demokratie«. Auf der unübersichtlichen Web­page werden Handys und Mobilfunkmasten für so ziemlich jedes Übel dieser Welt verantwortlich gemacht, natürlich neben der EU, den Freimaurern sowie den Juden, den Zinsen und der Atommafia. Auch eine »Schwulen-Geheimsektenloge«, bestehend aus Schill und Ole von Beust, sei in die finsteren Aktivitäten verwickelt.

Warum ist Thiesen überhaupt noch Parteimitglied? Die Piratenpartei habe nach dem Parteitag in Hamburg, wo erstmals Vorwürfe gegen Thiesen öffentlich gemacht worden waren, beschlossen, ein Partei-Aussschluss-Verfahren einzuleiten, erklärt der stellvertretende Vorsitzende An­dreas Popp gegenüber Jungle World. Wirklich angegangen sei man die Demission Thiesens allerdings erst nach der Bundestagswahl, im Frühjahr 2010 habe man dann den entsprechenden Antrag beim Schiedsgericht Rheinland-Pfalz eingereicht.
Ja, das habe alles ziemlich lange gedauert, gibt Popp zu, »man muss aber auch sehen, dass es sich um eine komplizierte formale Geschichte handelt. Und da will man die Sachlage natürlich möglichst so aufbereiten, dass das Schieds­gericht einen möglichst guten Überblick bekommt.«
Natürlich gehe so ein Parteiausschluss bei SPD, CDU & Co. deutlich schneller, sagt Popp, aber »wir arbeiten alle ehrenamtlich, und dies ist unser erster Fall, in dem wir einen Parteiausschluss anstreben«.
Gerüchteweise hat Bodo Thiesen im Landesverband Rheinland-Pfalz viele Freunde, mit denen er sich auch privat gut versteht. Immer wieder verdächtigten Parteimitglieder das Schiedsgericht deswegen, das Verfahren zu verschleppen. Bei der Piratenpartei möchte man dazu nichts sagen, verweist allerdings darauf, dass es mit dem Bundesschiedsgericht noch eine übergeordnete Instanz gebe.
Möglicherweise ist Bodo Thiesen also wirklich demnächst kein Parteimitglied mehr.