Der Protest gegen »Stuttgart 21«

Die neuen Lokomotivführer

Im Konflikt um »Stuttgart 21« zeigt sich der Kampf rivalisierender bürgerlicher Fraktionen um die Macht in Baden-Württemberg.

Boris Palmer (Grüne) wird im Frühjahr 2011 Ministerpräsident von Baden-Württemberg! Diese These wirkt nur auf den ersten Blick abwegig. Renate Künast führt zurzeit in allen Umfragen, wenn es um das Bürgermeisteramt in Berlin geht. Palmer regiert seit 2006 in Tübingen. Auch Freiburg hat seit langem einen grünen Bürgermeister. Und hat der grüne Bundesvorsitzende Cem Özdemir vor einem Jahr in Stuttgart nicht beinahe ein Direktmandat für den Bundestag gewonnen?
Relevant werden solche Gedankenspiele angesichts des derzeitigen Protests der Stuttgarter Bevölkerung gegen das Bahnprojekt »Stuttgart 21«. Da finden auf einmal die studentische Kif­fer-WG, der betagte ehemalige Chef des Stuttgarter Hauptbahnhofs, der das geradlinige Hochgeschwindigkeitsnetz der Bahn ablehnt, und die ganz gewöhnlichen »Leut’«, die mit der Schließung von Stadtbädern, Bibliotheken und anderer sozialer Infrastruktur die Kosten für »Stuttgart 21« bezahlen sollen, zusammen. Tausende von Argumenten gegen den neuen Bahnhof haben sie gesammelt: zu teuer, zu aufwendig, bautechnisch zu problematisch. Akribisch werden die Punkte auf www.kopfbahnhof-21.de dokumentiert.
Völlig überraschend für die politische Führung im »Ländle« ist eine soziale Mischung entstanden wie zuletzt in den siebziger Jahren im erfolgreichen Kampf gegen das Atomkraftwerk in Wyhl bei Freiburg. Ebenso verdutzt reiben sich viele heutige Berliner die Augen, die vor Jahrzehnten Stuttgart wegen seiner unerträglichen Biederkeit den Rücken gekehrt haben: Stuttgart, ausgerechnet Stuttgart, erhält nun in Zeitungen den Ehrentitel »Hauptstadt des Widerstands«.
Es ist ein Aufstand der Bürger, bei dem soziale Themen nur am Rande eine Rolle spielen. Was im Konflikt um den geplanten Bahnhof gerade stattfindet, ist der Kampf um die Wachablösung zwischen dem neuen und dem alten Bürgertum nicht nur in Stuttgart, sondern in ganz Baden-Württemberg. Rasant hat sich das »Ländle« in den vergangenen 20 Jahren gewandelt. Stuttgart ist inzwischen mit fast 40 Prozent die Großstadt mit dem höchsten Migranten-Anteil an der Bevölkerungsanteil in der Bundesrepublik. Selbst eine kleinere Industriestadt wie Schwäbisch Gmünd erreicht eine Migranten-Quote von 35 Prozent und wird von einem offen schwul lebenden CDU-Bürgermeister regiert. Der export­orientierte Auto- und Maschinenbau befindet sich mitten in einer Phase der Veränderung. Statt mit AKW verdient man auf den Weltmärkten auch mit Windrädern nicht schlecht. »Beim Daimler« sitzen Hunderte von Ingenieuren an der Entwicklung von neuen Elektromotoren und können den Begriff »Green New Deal« mit schwäbischem Akzent aussprechen. Die dazugehörenden gesellschaftlichen Veränderungen gehen inzwischen durch alle Schichten.
So ein Konflikt braucht Symbole. Da kommt ein Bauprojekt von vorgestern gerade recht, mit dem sich die alten Männer der Beton-Fraktion ein bleibendes Denkmal in der Landeshauptstadt schaffen wollen. Doch »auf de Schwäb’sche Eisenboahne« bewerben sich auch Grüne als Lokomotivführer. Und die wollen wie ein großer Teil der Stuttgarter keinen unterirdischen Bahnhof.