Die EU, der Euro und das Kapital

Konkurrenz belebt das Geschäft

Die Struktur der EU ist ein Segen fürs Kapital und drängt die Gewerkschaften zur Lohnzurückhaltung. Die EU belohnt standortgebundene Exportstrategien und bestraft solidarischen Internationalismus zwischen Lohnabhängigen.

Die linke Debatte über Europa, die Europäische Union und die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) krankt daran, dass sie um Alternativen wie »europäisch/kosmopolitisch« versus »souveränistisch/neo-nationalistisch« kreist, um die es im Kern gar nicht geht. Denn Nationalstaaten waren und sind keine homogenen Gebilde.
Fragen wir »cui bono?«, so wird schnell deutlich, welche sozialen Gruppen mit welcher Ausstattung inklusive Eigentumstiteln in ihren Handlungsmöglichkeiten begünstigt oder eingeschränkt werden. Und es zeigt sich zweifelsohne, dass die EWWU standortgebundene Export­strategien belohnt und solidarischen Internationalismus zwischen Lohnabhängigen bestraft.

Die Wirtschaftsverfassung innerhalb der Euro-Zone wird durch die Maastrichter Verschuldungsgrenzen und die Europäische Zentralbank (EZB) bestimmt. Die EZB ist, anders als beispielsweise die US-amerikanische Federal Reserve (Fed), die auch für ein hohes Beschäftigungsniveau mitverantwortlich ist, vorrangig dem Ziel der Preisniveaustabilität verpflichtet. Deswegen verfolgt sie traditionell ziemlich stur eine Politik der hohen Leitzinsen, die es im konjunkturellen Abschwung erschweren, eine expansive Fiskalpolitik der höheren Ausgaben zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit zu betreiben: Es wird teurer, die Zinsen der dafür aufgenommen öffentlichen Schulden zu bedienen. Über hohe Zinsen und stabilen Geldwert freuen sich aber vor allem Besitzerinnen und Besitzer von Rentiers-Einkommen. Sie können sicher sein, dass ihre leistungslosen Eigentumstitel nicht entwertet werden. Gleichzeitig werden Arbeitsplätze schaffende Investitionen ausgebremst, weil es profitabler ist, in festverzinsliche Wertpapiere und Schuldscheine zu investieren.
Es geht dabei nicht um einen vermeintlichen Gegensatz zwischen gutem »schaffenden« und bösem »raffenden Kapital« – das Kapital ist sich selbst verwertender Wert und blind dafür, aus welcher Quelle und über welche Verwertungsketten ihm seine Erträge zufließen. Bereits im April 1977 – also lange vor Entstehung der EWWU – berichtete der Spiegel: »Der Siemens-Konzern beispielsweise verlieh auf diese Weise im letzten Geschäftsjahr gut 1,45 Milliarden Mark – für neue Sachanlagen gab das Unternehmen dagegen nur 1,35 Milliarden Mark aus. Die Firma nahm für verliehenes Geld 533 Millionen Mark ein. Der gesamte Jahresüberschuss betrug nur wenig mehr, 606 Mil­lionen Mark. ›Einen wesentlichen Beitrag zur Ertragsverbesserung‹ des letzten Jahres, so teilten die Konzernchefs mit, ›leisteten die Zinseinnahmen‹.« Eine solche Praxis ist bis heute üblich.
Ebenso begünstigt die Währungsunion Export­strategien, weil die Exporteure sicher sein können, dass ihre Waren nicht in anderen Ländern verteuert werden, da man dort die Landeswährung abgewertet hat. Für die in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Finnland wichtigen Exportsektoren und Banken garantiert die EWWU eine strategische Win-Win-Situation.
Wenn Jürgen Trittin (Jungle World 29/2010) die EWWU und ihr makro-ökonomisches Regime lobt, ist das aber noch aus einem weiteren Grund ein Schlag ins Gesicht aller Lohnabhängigen. Sozialer Fortschritt bedeutete bislang für die abhängig Beschäftigten, wenn sie schon keine post-kapitalistische Wirtschaftsweise realisieren konnten, einerseits soziale Rechte, das heißt die Re­lativierung ihres Lohnarbeiterstatus sowie Zugriff auf soziale öffentliche Dienste, und andererseits einen hohen Anteil an den gesellschaftlich geschaffenen Neuwerten. Die Gewerkschaften im Nachkriegseuropa richten sich weithin nach dem Prinzip, Lohnerhöhungen orientiert an Produktivitätswachstum und Preissteigerung zu fordern.

Jede Unterbietung dieser Zielmarke (»verteilungsneutraler Spielraum«) bedeutet eine immanente Umverteilung zugunsten des Kapitals. Lohn- und Gehaltserhöhungen schmälern dagegen die Profitmasse. Mit der Verschärfung der Standortkonkurrenz seit den achtziger Jahren ist es den Lohnabhängigen noch nicht einmal mehr gelungen, die Löhne auf dem Niveau der gesellschaftlichen Reichtumsentwicklung zu halten, worauf André Brie (31/2010) mit Recht hingewiesen hat.
In gewisser Weise löst die EWWU aus Sicht des Kapitals ein Dilemma, dem sich Einzelkapitale in der kapitalistischen Demokratie ausgesetzt sehen und das der marxistische Ökonom Michal Kalecki schon im Jahr 1943 diagnostizierte: Bei Wahlen stimmen Lohnabhängige für eine Politik, die ihnen Vollbeschäftigung sichert und damit den Druck der »industriellen Reservearmee« der Arbeitslosen auf die Löhne schmälert. Kapitalisten könnten sich dann zwar eigentlich freuen über höhere Profite durch volle Auslastung ihrer Kapazitäten und sicheren Absatz ihrer Waren – aber es schlägt noch ein zweites Herz in ihrer Brust. Und das hat gar keine Lust auf sinkende Arbeitsdisziplin und Profit schmälernde Lohnforderungen von einer selbstbewussten Klasse von Lohnarbeitenden, oder auf stärkeren Einfluss demokratisch legitimierter Regierungen auf Investitionen sowie den Konjunkturzyklus, wodurch ihre Macht eingeschränkt würde. Und genauso wenig auf mögliche Inflation durch gestiegene Nachfrage, die ihre Zukunftsberechnungen unsicher macht. Die EWWU befriedigt gleich drei Wünsche des Kapitals auf einmal – indem sie diesen Widerspruch dauerhaft neutralisiert.

Umverteilung zulasten des Kapitals wird durch die EWWU nicht nur gestoppt, die derzeitige Verteilungsrelation wird vielmehr strukturell festgeschrieben. Wenn doch mal eine Gewerkschaft es wagt, die lohnpolitische Bescheidenheit aufzugeben, droht der geldpolitische Souverän. Als die IG Metall 2002 mit der Forderung nach 6,5 Prozent mehr Lohn und Gehalt in die Tarifrunde ging, warnte die EZB, man solle »keine inflationstreibenden Forderungen stellen«. Lohnzurückhaltung, so hieß es, sei unverzichtbar, um die EZB bei der Sicherung der Preisstabilität zu unterstützen. Der damalige EZB-Präsident Wim Duisenberg drohte ziemlich unverhohlen mit einer Zinsanhebung, wenn die Lohnabschlüsse die Inflationsrate über zwei Prozent heben sollten. Höhere Leitzinsen treffen allerdings alle Euro-Länder gleichermaßen, was unterm Strich heißt: Verfolgen die Lohnabhängigen in nur einem größeren Land eine expansive Lohnstrategie, kann die EZB alle Beschäftigten in der EWWU kollektiv bestrafen, indem sie wirtschaftliche Dynamik und Beschäftigungswachstum mit ihrem »One size fits all«-Instrument der Leitzinsen abwürgt. Dabei müssten insbesondere in der Bundesrepublik die Löhne endlich stärker steigen, um die gnadenlos gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit zu reduzieren.
Es verwundert daher nicht, wenn in immer mehr Euro- und EU-Ländern die Gewerkschaften in nationale »Sozialpakte« einwilligen, um ihrerseits den Wettbewerbsstandort zu stärken. Zu den Zeiten, als es noch keinen Euro und keine EZB gab, implizierten korporatistische Strukturen dieser Art noch einen »politischen Tausch«, bei dem die Beschäftigten für »Lohnzurückhaltung« immerhin mit höheren Sozialleistungen oder mehr Mitbestimmung entschädigt wurden. Heute geht es nur noch um nationales und betriebliches »Concession Bargaining«, bei dem die Gewerkschaften durch Verzichtszusagen Beschäftigungsabbau zu verhindern suchen und bestenfalls den Abbau sozialer Rechte mit moderieren dürfen – für die abhängig Beschäftigten eine Lose-Lose-Situation par excellence.

Das Kapital darf sich also freuen, weil es durch die EZB vor Inflation geschützt wird, durch Standortkonkurrenz vor Umverteilung und durch den Stabilitätspakt (in Deutschland sogar noch radikaler durch die sogenannte Schuldenbremse im Grundgesetz) vor größerem Einfluss der Regierungen auf Investitionen und Konjunktur. Ein hoher Beschäftigungsstand wird in den regelmäßig veröffentlichten »Grundzügen der Wirtschaftspolitik« zwar offiziell angestrebt – aber nur noch in einer Weise, die die strukturelle Macht des Kapitals nicht antastet: mit flexibilisierten Arbeitsmärkten (also hire and fire mit erpress­baren Lohnabhängigen), größerer Lohnspreizung (Niedriglohn-Sektor), »Anreizen« zur Arbeitsaufnahme und Dezentralisierung der Lohnverhandlungen. Selbst wenn dabei Vollbeschäftigung zustande käme, ließe sie den Beschäftigten keine Zeit, den Aneignern des Mehrwerts irgendwie ­gefährlich zu werden.
Rentiers-Einkommen und exportorientierte Kapitalgruppen freuen sich über gewachsene strategische Optionen, Lohnabhängige haben das Nachsehen. Sie müssten, um das Lohndumping zu unterbinden, ein transnationales Kartell bilden und dürften keine Tarifabschlüsse mehr unterhalb des verteilungsneutralen Spielraums akzeptieren. Aber wer garantiert dem französischen CGT-Gewerkschaftsmitglied, dass nicht die deutsche IG Metall die »Klassensolidarität« aufkündigt und doch wieder in Lohnzurückhaltung einwilligt, weil sie um die exportabhängigen ­Arbeitsplätze ihrer Mitglieder fürchtet? Gerade die bundesdeutschen Gewerkschaften haben viel zu lange, von Maastricht bis Lissabon, den Integrationsprozess abgenickt, ohne parallel die notwendige politische Handlungsfähigkeit auf transnationaler Ebene herzustellen.
Die Linke muss dringend für eine radikale Generalüberholung der EWWU kämpfen. Alles andere läuft darauf hinaus, die Lohnabhängigen auf weitere Jahrzehnte relativer Verarmung durch verschärfte Konkurrenz untereinander zu verpflichten. Wenn Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, Grüne und andere Linke das Spiel mitmachen und wie jetzt Giorgos Papandreou in Griechenland dem Reichskanzler Heinrich Brüning nacheifern, um marode Staatshaushalte auf Kosten der Malocher zu sanieren, profitieren »rechtspopulistische« Kräfte, die die Aufmerksamkeit im Verteilungskampf vom Kapital auf vermeintliche Schmarotzer lenken: Partij voor de Vrijheid, Front National und Laos lassen ­grüßen.