Über Menschen und andere Affen

The Kissing Link

Die Idee des Missing Link impliziert, die Evolution vollzöge sich von Art zu Art. Die Evolution des Menschen vollzieht sich aber von Individuum zu Individuum, seien diese nun Menschen oder Affen. Nicht nur, weil sich evolutionäre Veränderungen durch sexuelle Kontakte von Individuen ergeben, sondern auch durch die Art und Weise ihres sozialen Umgangs.

Als das Fachblatt Science Anfang Mai eine erste Version des Neandertaler-Genoms veröffentlichte, klärte sich eine lang diskutierte Frage. Neandertaler und der Homo sapiens sapiens – also »wir« , der anatomisch moderne Mensch – hatten mehr als nur räumlichen Kontakt.
Mit den Ergebnissen, die die Arbeitsgruppe um den am Leipziger Max-Planck-Institut forschenden Paläoanthropologen Svante Pääbo vorstellte, lässt sich zeigen, das ein bis vier Prozent der DNA moderner Menschen vom Neandertaler stammen. Es muß also zu sexuellen Kontakten zwischen beiden Formen gekommen sein, die auch fruchtbare Nachkommen hinterlassen haben. Vermutet wurde das schon seit einigen Jahren. Man hatte schon früher ein Neandertaler-Skelett entdeckt, das direkt neben dem eines modernen Menschen lag, so dass der Schluss nahe lag, dass den beiden auch ein gemeinsames Leben zuzutrauen sei.
Irgendwann vor 50 000 bis 100 000 Jahren trafen in Europa und Westasien die Populationen von modernen Menschen und Neandertalern aufeinander und vermischten sich, wenn auch wahrscheinlich nur zu kleinen Teilen. Unbeantwortet ist damit immer noch die Frage, warum die Neandertaler dann vor circa 30 000 Jahren verschwanden und der moderne Mensch allein übrig blieb. Die Forscher um Svante Pääbo hoffen zwar, aus den genetischen Unterschieden von modernen Menschen und Neandertalern Hinweise auf ei­nige mögliche Faktoren zu finden, etwa Krankheitsresistenzen oder eine bessere Disposition für kognitive Fähigkeiten des Homo sapiens sapiens – ein abschließendes Urteil wird aber aus der DNA nicht abzuleiten sein. Denn die entscheidenden sozialen Komponenten sind nicht dem Erbgut abzulesen. Wie zum Beispiel sah die direkte Kommunikation zwischen den Individuen der Populationen aus? Redeten sie bereits in einer grammatikalisch strukturierten Sprache miteinander, oder verständigten sie sich über Laute und Gebärden? Das weiß man nicht.
Für den hier in Frage stehenden Komplex ist dies unwichtig. Die Forschung am Neandertaler-Genom bedeutet nämlich eine Paradigmenverschiebung in der Paläoanthropologie, weil sie ganz ohne den nach wie vor beliebten Begriff vom Missing Link auskommt. Die Neandertaler werden von Pääbo und seinen Mitarbeitern nicht in eine lineare Geschichtskonstruktion gebunden, in dem das eine aus dem anderen hervorgeht und das Alte das Neue ersetzt. Erzählt wird bei Pääbo die Geschichte zweier Populationen, die eine zeitlang parallel nebeneinander existieren, sich dann treffen und miteinander austauschen, bis die eine von den beiden verschwindet. Die Spuren, die die veschwundene Population dabei hinterlässt, sind aber nicht tot und steinern, sondern lebendig, eingeschrieben in das Erbgut bis heute. Einen Stammbaum oder eine Entwicklungstufenleiter, in der die Lebewesen von einfachen zu immer komplizierteren Formen fortschreiten, wird man damit nicht so ohne weiteres konstruieren können.
Anders sieht das mit der Entdeckung des Aus­tralopithecus sediba aus, einer neuen Hominidenart aus dem Süden Afrikas. Die populärwissenschaftlichen Artikel sprechen genauso wie der ebenfalls in diesem Jahr in Science erschienene wissenschaftliche Orginaltext durchgängig von einem entdeckten Missing Link. Die neue Hominidenart, die vor 1,78 bis 1,95 Millionen Jahren gelebt hat, soll ein Missing Link zwischen den älteren Australopithecinen und den »neueren« Vertretern der Gattung Homo darstellen. Der Fund ist wissenschaftlich mit Sicherheit eine Sensation, die allerdings auch auf eine Schwierigkeit der ganzen Forschungsrichtung verweist. Wie einer der Sediba-Entdecker, der Züricher Anthropologe Peter Schmid, sagte, liege hier der Hauptgewinn vor allem in der bloßen Menge der gefundenen Knochen. Bisher habe man alle bekannten Fossilien der Periode, die für den Ursprung des Menschen infrage kommen, auf einem kleinen Tisch ausbreiten können, sagt Schmid. Das habe sich mit den neuen Funden, einem weiblichen Vormenschen und einem männlichen Kind, schlagartig geändert. Man wird also den unter Biologen weit verbreiteten Witz, die Paläoanthropologie mache aus einem Knochen eine Wissenschaft, etwas verändern müssen. Es sind mittlerweile schon eine ganze Mutter und ein ganzes Kind, die uns über unsere vorvergangene Vergangenheit Aufschluss geben.
Die ungebrochene publizistische Produktivität dieser Wissenschaft verdankt sich einem Hypothesenüberschuss. Das ist so seit dem 7. Februar 1925. An diesem Tag erschien im Fachblatt Nature Raymond Darts Aufsatz über den Australopithecus africanus, den »südlichen Affen von Afrika«. Dart hatte darin den Australopithecus zu einem aufrecht gehenden Zweifüßer und Vorfahren des Menschen ernannt. Das »Kind von Taung«, wie das entdeckte Exemplar des Australopithecus nach seinem südafrikanischen Fundort in der Fachliteratur benannt wurde, ist der erste wirklich wissenschaftliche Beleg für Darwins Vermutung, dass der Mensch aus den Affen hervorgegangen sei – beziehungsweise genauer, wie Darwin formuliert: dass der Mensch unter den Affen zu suchen sei. Die Geschichte, die aus dieser und Darts weiteren Veröffentlichungen unter anderem zum Lebensstil dieser kleinen Zweibeiner hervorging, ist eine, die allerdings mehr über die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Organisationsformen des heutigen Menschen aussagt als über das Fossil selbst. Seit Darts Interpretation dieses Kinderschädels eines kleinen, aber großhirnigen Anthropoiden war die Evolutionsbiologie geprägt von der Vorstellung, die Entwicklung der Lebewesen vollziehe sich in deren Verkettung in einer linear aufsteigenden Reihe, in der ein Glied in das andere greifen muß, bis der Leiter keine Sprossen mehr fehlen.
Diese Vorstellung, dass sich Lebewesen einer bestimmten Form, seien es Menschen oder Pferde, im Schema einer aufsteigenden Reihe von der Urform bis heute darstellen lassen, hat jedoch mit Darwin nur sehr wenig zu tun, was im übrigen schon aus dem vollständigen Fehlen von Stammbäumen in seinem von ihm selbst zu Lebzeiten veröffentlichten Werk abgelesen werden kann. Darüber hinaus dachte sich Darwin die geschichtliche Entwicklung der Lebewesen nicht im Kontinuum der Arten, sondern »nur« auf der Ebene sich fortpflanzender Individuen. Der Entwicklungsprozess selbst war bei ihm allerdings ein unendlich langer, der über die winzigsten Unterschiede Veränderungen hervorbrachte, die allerdings immer auf dem Alten basierten. Seine Natur machte keine Sprünge. Darwins in jeder Beziehung revolutionär wirkende Theorie war keine Theorie des revolutionären Bruchs. Sie war aber auch entschieden gegen jede Teleologie gerichtet. Die Natur hatte in seiner Version kein Ziel mehr und kannte somit auch keine Höherentwicklung im Sinne einer Fortschrittsvorstellung.
Die Idee der Höherentwicklung und des Fortschritts sind aber mehr oder weniger explizit die Grundlage eines jeden Stammbaums und damit eines jeden sogenannten Missing Link. Nach Darwin gibt es kein Missing Link, einfach deshalb nicht, weil es nicht Arten sind, die sich entwickeln, sondern Populationen, deren Individuen zueinander in Kontakt treten. Arten sind bloß Abstraktionen – und Darwin hätte Hegels Diktum zugestimmt, dass Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend zu machen, nichts anderes heißt, als Wirklichkeit zu zerstören.
Der in Frankfurt lehrende Paläöbiologe Friedemann Schrenk drückt es so aus: »Es gibt kein Missing Link, sondern eine Verflechtung unterschiedlicher geografischer Varianten der ersten Vormenschen in Zeit und Raum entlang der Grenzen des schrumpfenden tropischen Regenwalds in der Zeit der Vor- oder Frühmenschen in Afrika.« In Schenks Version ist die Vorstellung des Hervorgehens einer neuen Art aus einer alten obsolet. An die Stelle der Art sind Populationen getreten, die wie Neandertaler und moderner Mensch miteinander in Austausch treten oder auch nicht. Die Menschenentwicklung verläuft nicht mehr linear, sondern im Zickzack-Kurs und ohne Ziel. Das heißt auch, dass es keine Kette der Lebewesen gibt, in die sie in ihrer Entwicklung eingeschlossen wären.
Der letzte in dieser Hinsicht unternommene Versuch, die Entwicklungskette von Skelett, Hirngröße und DNA zu zerreißen, stammt von der amerikanische Evolutionsbiologin und Primatologin Sarah Blaffer Hrdy. In ihrem Buch »Mütter und andere« vergleicht sie Affen, Menschenaffen und Menschengesellschaften unter dem Gesichtspunkt, ob und wie sie Betreuungssysteme für Neugeborene und Kinder entwickelt haben, die das Mutter-Kind-System unterstützen und entlasten. Dass die Schimpansen nicht mit der Verbreitung der Population des Menschen mithalten konnten, hängt Hrdy zufolge mit deren rigidem Betreuungssystem zusammen, das die Entwicklung der Jungtiere ganz an die Zweiheit von Mutter und Kind bindet.
Vorbilder für ein Betreuungsystem, das weit über die Mutter-Kind-Beziehung hinausgeht, Nicht-Verwandte genauso wie entfernte Verwandte einschließt, findet sie auch unter den Primaten, insbesondere bei südamerikanischen Krallenaffen. Krallenaffen sind klein und haben weder ein besonders entwickeltes Hirn, noch stellen sie im Gegensatz zu Schimpansen und Orang Utans Werkzeuge her. Was sie aber haben, ist ein Verhältnis zu ihren Neugeborenen, das die gesamte Gruppe in die Betreuung einbezieht. Hrdys These ist, das genau dieser soziale Entwicklungsschritt es war, der den Frühmenschen einen Vorteil gegenüber Schimpansen und andern Menschenaffen in den afrikanischen Savannen verschafft hat, der ihren immensen Aufschwung bedingte. Es war also eine soziale Technik, die weder mit der Hirngröße noch der DNA-Ähnlichkeit korreliert, die den frühen Menschen in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt einen Vorteil gegenüber anderen Lebewesen verschaffte, die diese soziale Technik noch nicht entwickelt hatten.