Ein Jahr nach den Anschlägen in Mumbai

Der Kader am Telefon

Ein Jahr nach den Anschlägen von Mumbai steht die Urteilsverkündung gegen den überlebenden Attentäter bevor. Wer die Terrorgruppe anleitete, ist weiterhin ­unbekannt.

Der Attentäter wurde auf einer Videoaufnahme identifiziert und ist geständig. An der Verurteilung Mohammed Ajmal Amir Imans, genannt Kasab, gibt es daher keine Zweifel. Offen ist allerdings, ob er trotz seines Geständnisses hingerichtet werden wird. Auf den jüngsten Bildern aus dem streng bewachten Adiala-Hochsicherheitsgefängnis, in dem der Prozess geführt wird, erinnert der 21jährige kaum mehr an den Jihadisten, der gemeinsam mit neun Komplizen vor einem Jahr ein Massaker in der indischen Metropole Mumbai anrichtete. Etwa 170 Menschen wurden getötet, eine offizielle Zahl der Opfer liegt bis heute nicht vor.
Am frühen Morgen des 26. November kamen die Attentäter mit Booten aus Pakistan an. Das Morden begann um 9.40 Uhr in der Victoria Station, einem chronisch überfüllten Bahnhof Mumbais. Drei Tage später wurde der letzte Attentäter in einer Synagoge getötet. Kurz zuvor hatte Imran, wie der Jihadist in den Akten genannt wird, noch seine beiden letzten Geiseln erschossen. Aufzeichnungen von Telefonaten zwischen den Jihadisten in Mumbai und unbekannten Kadern in Pakistan zeigen, dass gegen Ende des fast dreitägigen Mordens Attentätern wie Imran die Motivation zum Töten fehlte. Immer wieder forderte der Anführer dazu auf, die Geiseln endlich zu erschießen: »Es wird das Verhältnis von Indien zu Israel verderben. Tu es! Tu es jetzt, schieß ihnen in den Kopf!«
Die Attentatsserie von Mumbai verunsicherte die indische Öffentlichkeit und offenbarte der Weltöffentlichkeit die umfassende Inkompetenz des indischen Sicherheits- und Polizeiapparats. Die von Korruption und Vetternwirtschaft geprägten Behörden konnten frühzeitige Warnungen des FBI vor den Attentaten nicht effektiv verwerten und waren nicht in der Lage, das Morden schnell zu beenden.

Statt zu einer gründlichen Reform des Sicherheitsapparats führten die Anschläge von Mumbai zu der üblichen Reaktion, der reflexartigen Schuldzuweisung an Pakistan. Tatsächlich kamen die Attentäter aus den Reihen von Lashkar-e-Taiba (LeT), einer hauptsächlich in Kaschmir aktiven Terror­organisation mit besten Kontakten zum pakistanischen Geheimdienst. Erst nach intensivem diplomatischen Druck erfolgten Verhaftungen, derzeit müssen sich sieben Männer vor Gericht für die Beteiligung an den Anschlägen verantworten, darunter Zakiur Rehman Lakhvi, der Anführer der LeT. Großes Interesse an einem schnellen Prozess haben die pakistanischen Behörden ­allerdings offenbar nicht. Nachdem der Vorsitzende Richter vor der letzten Sitzung kurzfristig in Urlaub fuhr, wurde der Prozess Mitte November zum wiederholten Mal vertagt.
In den USA dagegen sorgten mehrere Verhaftungen im Oktober für Schlagzeilen. David Coleman Headley, ein 49jähriger US-amerikanischer Bürger pakistanischer Herkunft, wird der direkten Beteiligung an den Anschlägen verdächtigt. Zwei Wochen darauf wurde Tahawwur Hussain Rana in seinem Haus in Chicago festgenommen. Nach Angaben des FBI besuchten beide gemeinsam die Militärakademie im pakistanischen Hasan Abdal. Rana wird die logistische Unterstützung terroristischer Gruppen vorgeworfen.

Über die Verbindungen der beiden US-Bürger zu terroristischen Organisationen in Pakistan und angrenzenden Ländern ist wenig bekannt, die entsprechenden Akten werden vom FBI unter Verschluss gehalten. Als sicher gilt lediglich, dass Headley vor den Anschlägen in Mumbai durch Indien reiste, dabei auch Mumbai besuchte und währenddessen regelmäßig mit einem Kontaktmann in Pakistan in Verbindung stand. Stimmenanalysen ergaben, dass es sich dabei um denselben Mann handelt, der den Attentätern von Mumbai telefonische Anweisungen gab.
In Indien sorgten die Neuigkeiten aus den USA für Furore und hektische Betriebsamkeit. Die indische Polizei bemüht sich nun, die Spur Headleys nachzuvollziehen, die Boulevardmedien spekulieren derweil über Verbindungen von Bollywood-Schauspielern zu dem geheimnisvollen Amerikaner.
Mitte November wurde ein Pakistani unter dem Verdacht der Spionage auf dem Flughafen in New Delhi festgenommen. »Vor allem unsere Atom­anlagen sind derzeit besonders gefährdet«, erklärte die National Investigation Agency, die als Reaktion auf die Attentate von Mumbai im vergangenen Jahr gegründet worden war. Am ersten Jahrestag des »indischen 9/11«, wie die Attentatsserie von zahlreichen Massenmedien genannt wurde, und vor der bevorstehenden Urteilsverkündung im Prozess gegen den einzigen überlebenden Attentäter wird der islamistischen Bewegung wieder eine gewisse Aufmerksamkeit entgegengebracht.
In den vergangenen Monaten waren allerdings vor allem die maoistischen Guerillatruppen in den Schlagzeilen. Im Juni erklärte Premierminister Manmohan Singh den bis dahin legalen Arm der Maoisten, die Kommunistische Partei-Maoisten, zur terroristischen Vereinigung. Wenig später setzte die Regierung mehr als 70 000 Soldaten und Paramilitärs gegen die Guerilla in dem so genannten Roten Korridor im Osten des Landes in Bewegung. Die ersten Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen ließen nicht lange auf sich warten.
Das indische Militär und die Kollegen der Polizei sind berüchtigt für Folterungen, Vergewaltigungen und extralegale Exekutionen, unabhängig davon, ob es um islamistische Terroristen, maoistische Guerilleros, bewaffnete Separatisten, Mitglieder der Mafia Mumbais oder einfach Menschen geht, die im Verdacht stehen, staatsfeindliche Gruppen zu unterstützen. Auch im Falle des einsitzenden Mumbai-Attentäters zweifelt kaum ­jemand daran, dass Kasabs Aussagen durch Folter erzwungen wurden.

Wer aber das Kommando über die Mobiltelefone führte und unablässig zum Morden antrieb, ist weiterhin unklar. Seit Jahresbeginn kam es in Indien zu keinen größeren islamistischen Attentaten. Auch die Rhetorik von Regierung und Massenmedien gegenüber Pakistan ist deutlich zurückhaltender geworden. Mit Spannung verfolgt man in Indien die Versuche Pakistans, die Taliban militärisch zu besiegen. Diese Offensive hat wohl auch die islamistischen Gruppen in Pakistan bewogen, ihre Aktivitäten in Indien zu reduzieren.
Jihadisten könnten jedoch auch unter indischen Muslimen rekrutiert werden. Durchschnittlich verdienen Muslime weiterhin weniger, sie haben schlechteren Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Dazu kommt ein weitverbreitetes subjektives Gefühl vor allem junger muslimischer Männer, zu kurz gekommen zu sein. Gerade in Megastädten wie Mumbai und Hyderabad hängen Hunderte willige Rekruten an den Lippen islamistischer Prediger.
Die indischen Behörden haben ihrerseits aus den Verhaftungen in den USA eine schnelle Lehre gezogen. Künftig werden Visa für Indien noch schwerer zu beschaffen sein, vor allem für Antragsteller, die in Pakistan geboren wurden und schon einmal das Land bereist haben. Die Regierung hält das tatsächlich für einen ersten Erfolg im Kampf gegen den Terror.