Das »Wattestäbchenphantom«

Die rosarote Wahrheitsmaschine

Aus dem »Phantom von Heilbronn« wurde das »Wattestäbchenphantom«. Die Versuche der modernen Kriminaltechnik, dem Strafverfahren die verlorene Unschuld zurückzugeben, sind zum Scheitern verurteilt.

Seitdem nicht mehr das Geständnis und somit die Folter, sondern die Überzeugung des Gerichts für eine Verurteilung benötigt wird, ist der Zweifel Bestandteil der gerichtlichen Wahrheitsfindung. Denn Zeugen lügen und Erinnerungen trügen. Abhilfe schaffen sollten die unsichtbaren und un­bestechlichen Spuren der Wahrheit: verräterische Fingerabdrücke, welche die wundersame Ga­be haben, Raum und Zeit unbeschadet zu überbrücken.

Heutzutage ist es der genetische Fingerabdruck, der auch den achtsamsten Täter überführen soll. Winzige Hautpartikel genügen, um eine DNA auf ihre Besonderheiten hin zu untersuchen und so den Spurenverursacher zu identifizieren.
Bloß machten verunreinigte Wattestäbchen aus einem Polizisten mordenden Phantom das, was es immer schon war: ein Phantom, das nur existierte, weil nach genetischen Spuren gesucht wurde, und das aufhörte zu existieren, weil zu ge­nau gesucht wurde. Bis es so weit war, wusste die Polizei immerhin viel über das Phantom zu sagen: »Sie ist äußerst mobil, schließt sich immer neuen Personen mit unterschiedlicher Nationalität an und nächtigt öfter in Gartenanlagen, Wohnwagen und leer stehenden Gebäuden. Sie ist extrem gefährlich, unberechenbar und skrupellos.« Das sagte der Leiter der Sonderkommission »Parkplatz«, Frank Huber, noch im Dezember 2008 dem Stern.
Überall dort, wo die Wattestäbchen zum Einsatz kamen, war das Phantom schon da; und je genauer die Tatorte untersucht wurden, desto eher hatte das Phantom seine Finger im Spiel. Dass die Ungereimtheiten des Falls – die Arbeiterin aus der Wattestäbchenfabrik hatte ihre Spuren in Frankreich, Österreich sowie Deutschland gestreut und zudem unterschiedlichste Delikte begangen – erst so spät auffielen, mag auch daran liegen, dass der Mord an einer Polizistin aufgeklärt werden sollte. Kollegialer Verfolgungs­eifer immu­nisiert Ermittler schnell gegen naheliegende Zweifel.
Vordergründig ließe sich die »Ermittlungspanne« als Erschütterung der Beweiskraft des genetischen Fingerabdrucks verstehen. Zumal der Heilbronner Fall kein Einzelfall ist. Im August 2008 wurde der Leiter der kriminaltechnischen Abteilung der Polizei von Baltimore entlassen, nachdem zahlreiche DNA-Profile von Mitarbeitern des Labors irrtümlich in die Datenbank der so genannten unbekannten Spuren geraten waren. Kurze Zeit später berichtete die Los Angeles Times von einer falschen Verurteilung wegen einer verunreinigten DNA-Probe. Ein wegen Mordes und Vergewaltigung im Jahr 2004 Verurteilter wurde aus dem Gefängnis entlassen, als sich herausstellte, dass seine DNA-Probe mit den Spuren vom Tatort vermischt worden war.
In der wissenschaftlichen Literatur mehren sich dementsprechend die kritischen Stimmen. Bis­lang wurden zahlreiche Fälle bekannt, in denen die Spuren vom Tatort entweder mit denen der Mitarbeiter des Labors vermischt wurden oder, für die Verdächtigen weit folgenreicher, Proben verschiedener offener Fälle durcheinander gerieten.

Das von Kritikern ironisch als truth machine bezeichnete Verfahren der Beweisgewinnung über DNA-Spuren ist aber nicht nur anfällig für die tech­nischen Unzulänglichkeiten der Labore. Es zehrt ob seiner scheinbaren Exaktheit von einer intuitiven, nur schwer angreifbaren Plausibilität. Doch ist die Beweisführung mittels der DNA-Analyse allein über die Wahrscheinlichkeit zu füh­ren.
Tritt etwa ein DNA-Muster mit einer Wahr­schein­lichkeit von 1:50 000 auf, kann daraus gerade nicht geschlossen werden, dass die Person, deren genetischer Fingerabdruck mit dem am Tatort gefundenen übereinstimmt, nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:50 000 unschuldig sei. Genau dies wäre der prosecutor’s fallacy, der Fehlschluss des Staatsanwalts, der in die Ge­schich­te der Justizirrtümer einging. So wurde die britische Anwältin Sally Clark wegen dieses Fehlschlusses irrtümlich wegen des Mordes an ihren zwei Kindern verurteilt, die beide am Plötzlichen Kinds­tod starben. Ein Gutachter gab an, die Wahr­schein­lichkeit, dass zwei Kinder nacheinander an diesem Phänomen stürben, sei 1:73 Millionen. Er verkann­te, dass die beiden Todesfälle nicht als voneinander unabhängige Ereignisse betrach­tet werden konnten.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die DNA eines Unschuldigen zufällig mit der vom Tatort übereinstimmt, ist eine gänzlich andere als die Wahrscheinlichkeit, dass die Person unschuldig ist, deren DNA mit der vom Tatort übereinstimmt: Da die gefundene DNA mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:50 000 in der Bevölkerung vorkommt, besteht eben diese Wahrscheinlichkeit, dass eine un­schuldige Person die DNA aufweist, die am Tatort gefunden wurde. Behauptet der Staatsanwalt jedoch, die Wahrscheinlichkeit, dass der Angeklagte unschuldig sei, betrage nur 1:50 000, begeht er den klassischen Fehlschluss. Denn bei der unterstellten Gesamtzahl der in Frage kommenden 200 001 Einwohner einer Gemeinde kommt die Spur fünf Mal vor, wobei nur ein Einwohner schul­dig ist. Ohne weitere Anhaltspunkte sagt die übereinstimmende DNA jedoch: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Angeklagte unschuldig ist, liegt bei 4:5 oder 80 Prozent.

Dass wegen des intuitiven Vertrauens in die Wahr­scheinlichkeitsrechnung tatsächlich Menschen unschuldig im Gefängnis saßen, weist auf den grund­sätzlichen Widerspruch des Strafverfahrens hin. Das Strafverfahren soll die Wahrheit ans Licht bringen, basiert aber auf selektiver Zuschrei­bung von Kriminalität. Kriminalität ist ein negatives gesellschaftliches Gut, das nicht einfach da ist, sondern durch selektive Polizeiarbeit erst verteilt wird. Dabei verhält es sich wie bei dem Phan­tom von Heilbronn. Ohne Suche gibt es keine Kriminalität, und wenn man zu genau hinschaut, verschwindet sie möglicherweise auch wie­der. Kritische Kriminologen haben vor langer Zeit die Legitimität des gerichtlichen Schuldspruchs erschüttert, als sie darlegten, dass Krimi­nalität auf Zuschreibungen beruht, die dem gerichtlichen Verfahren immer vorangestellt sind, in diesem aber nicht sichtbar gemacht werden. Das Gefängnis ist demnach kein Spiegel der Gesell­schaft, sondern ein Spiegel der Vorstellungen, die sich die Polizei von der Gesellschaft macht – also praktische Ideologie.
Die moderne Kriminaltechnik versucht, dem Strafverfahren die verlorene Unschuld zurückzugeben, und schreibt dabei dessen selektiven Charakter fort. In den genetischen Datenbanken ist nur gespeichert, wer bereits strafrechtlich auffällig wurde, und wer darin gespeichert ist, wird wahrscheinlich wieder auffällig – schon aufgrund der Speicherung. Die Gefahrenprognose, mit der die polizeiliche Speicherung der DNA-Spuren gerechtfertigt wird, bestätigt sich in einem großen, selbstreferenziellen Zirkel.

Weniger die stets brüchige Wahrheit des Strafver­fahrens als die Sorge um das Privatleben war es, die den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Dezember 2008 zu einer richtungweisenden Entscheidung bewog. Geklagt hatten britische Staatsbürger gegen die Speicherung ihrer DNA. Obwohl sie nie rechtskräftig verurteilt worden, sondern nur unter Tatverdacht geraten waren, sollten ihre DNA-Proben dauerhaft aufbewahrt werden. Der EGMR urteilte, dass die Speicherung der DNA auf Verdacht und Vorrat das Recht auf Privatleben der Betroffenen verletzt. Er begründete dies mit Art und Umfang der persönlichen Informationen, die in den DNA-Proben ent­halten seien. Britische Behörden werden nun Tausende Proben vernichten müssen.
Am Ende waren es die bürgerlichen Prinzipien von Privatleben und Herrschaft über private Informationen, die die uferlose polizeiliche Speicherung genetischen Materials beschränkten. Zugestanden wird dabei stillschweigend, dass genetisches Material etwas über uns aussagen könn­te. Die Aufnahme des DNA-Profils in den Schutz­bereich des Privatlebens erhellt weit mehr über diese Gesellschaft als jede DNA.