Völkische Mystik in der deutschen Nationalmythologie

2000 Jahre Kampf gegen die Zivilisation

Von Blut und Boden dürfte bei den Gedenk­feiern in diesem Jahr selten die Rede sein. Doch von der völkischen Mystik hat sich die deutsche Nationalmythologie nicht gelöst.

»Ich will sie führen, wo sie hingehört«, sagt der Vater, dessen Tochter von einem feindlichen Soldaten vergewaltigt wurde. »Kommt, meine Vettern, folgt mir!« Gemeinsam erdolchen sie die Frau. »Stirb! Werde Staub!« Unter den Zeugen des Mordes kommt die Idee, die Täter müssten bestraft werden, gar nicht erst auf. Vielmehr wird auch der Mord dem feindlichen Militär, das den Vergewaltiger längst bestraft hat, in die Schuhe geschoben.
Nicht von einem Ehrenmord im islamischen Milieu ist hier die Rede, sondern vom deutschen nation building. Man kann nur hoffen, dass die Jihadisten Heinrich von Kleists 1808 geschriebenes Drama »Die Herrmannsschlacht« nicht lesen, denn sie könnten dem Werk manch eine Anregung entnehmen. Herrmann hat nämlich eine originelle Idee: »Wir zählen fünfzehn Stämme der Germaner; In fünfzehn Stücke, mit des Schwertes Schärfe, Teil ihren Leib (…) Der Sturmwind wird, die Waldungen durchsausend, Empörung! rufen.«
Auch sonst mangelt es nicht an Bluttaten in die­­sem Stück. Aristan, der Germanien für eine nutz­lose Fiktion hält, wird umgehend enthauptet, römische Kriegsgefangene werden konsequent massakriert. Kleist lässt keinen Zweifel daran, dass im Kampf für das Vaterland jedes Mittel recht und dieser Kampf erst mit der vollständigen Vernichtung des Feindes beendet ist: »Als bis das Raubnest ganz zerstört.« Es ist kein Wunder, dass der »Reichsdramaturg« Rainer Schlösser die »stählerne Romantik« des Stücks rühmt, das 146mal in der Spielzeit 1933/34 aufgeführt wurde.
Vermutlich ist stählerne Romantik bei den Gedenkfeiern in diesem Jahr weniger gefragt. Wenn des Sieges des Arminius (Herrmann) über den römischen Feldherrn Varus gedacht wird, dürfte Angela Merkel darauf drängen, dass niemand das in konservativen Kreisen noch immer beliebte Niedersachsenlied singt: »Wo versank die welsche Brut? In Niedersachsens Bergen, an Nieder­sachsens Wut.«

Schließlich muss man in der EU ja zurechtkommen mit der »welschen Brut«, den Nationalfeiern also eine gesamteuropäische Note geben. Arminius wird daher wohl eher als Multikulti-Held gefeiert werden. Denn ihm, so die moderne nationalmythologische Interpretation, verdanken wir die deutsche Sprache, auch habe er, so der Spie­gel, bewirkt, »dass sich die Legionen und damit auch der römische Lebensstil in der Antike nicht unbehindert ausbreiten konnten.«
Arminius war jedoch weder ein Globalisierungs­kritiker, der die kulturelle Vielfalt gegen McRom verteidigen wollte, noch kannte er eine Nation. Die Bezeichnung »Germanen« benutzten damals nur die Römer, die versuchten, die Aristokratie die­ser Stämme zu gewinnen. So konnte Arminius, dessen germanischer Name nicht bekannt ist, rö­mischer Bürger und Offizier werden. Doch er war nicht integrationswillig, sammelte andere ger­manische Warlords unter seiner Führung, in einer mehrtägigen Schlacht töteten seine Krieger mindestens 15 000 Legionäre.
Ob Arminius nur den römischen Einfluss zurückdrängen und sich bei dieser Gelegenheit die etwa vier Tonnen Edelmetall aneignen wollte, die ein römischer Feldherr gewöhnlich mit sich führ­te, oder ob er ein eigenes Reich anstrebte, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass man den alten Germanen zwar manches vorwerfen kann, jegliches Nationalbewusstsein ihnen jedoch fremd war. Nach dem Sieg des Varus wurden die internen Kämpfe, mit denen sich die Warlords in Ermangelung einer ausreichenden Zahl von Legionären vornehmlich beschäftigten, so verheerend, dass 47 n.Chr. die Cherusker, der Stamm des Arminius, eine Gesandtschaft nach Rom schickten und um die Entsendung eines Fürsten baten.

Jedes Vaterland ist eine imagined community, weist Benedict Anderson in seinem Buch »Die Erfindung der Nation« nach. Eine Nationalmythologie ohne Geschichtsfälschung gibt es nicht, doch kann die Nation auf recht unterschiedliche Weise erfunden werden. Besonders problematisch wird es, wenn der Nationalstaat nicht, wie in Frankreich, das Produkt eines regime change in einem bereits zu einem Staat gewordenen Territorium ist, sondern erst zusammengefügt werden muss. Dann liegt es nahe, eine völkische Mythologie zu schaffen, um diesen keineswegs selbstverständ­lichen oder zwangsläufigen Zusammenschluss zu rechtfertigen. Wird der Nationalstaat nicht von einem in einer Revolution siegreichen Bürgertum gegründet, sondern durch autoritäre Manipulationen und Kriege, versteht die Nationalmythologie unter »Befreiung« nicht die Beseitigung der Despotie, sondern der Fremden und Dissidenten.
Bei den Deutschen war beides der Fall. Kleist nimmt viele Folgen der Reichsgründung vorweg, den hemmungslosen Willen zur Vernichtung ebenso wie die Sitte, erst zu morden und sich dann darüber zu empören, wie ungerecht man behandelt wird. Diese blutrünstige Mystik gilt zwar als nicht mehr zeitgemäß, doch das halbamtliche Geschichtsbild etwa des ZDF oder des Spiegel kann sich noch immer nicht von völkischen Mythen lösen. Hauptsache deutsch und einig, lau­tet das Motto.

So fabuliert Guido Knopp, verantwortlich für die ZDF-Serie »Wir Deutschen«, unverdrossen: »Er ist der Urvater Deutschlands, mit ihm beginnt die deutsche Geschichte: Otto der Große! Unter ihm sehen sich die vier Ur-Stämme auf deutschem Boden erstmals als eine Schicksalsgemeinschaft.« 1 000 Jahre sollen es schon sein, daher muss Otto I. zum deutschen Reichsgründer ernannt wer­den, obwohl er sich 962 zum römischen Kaiser krönen ließ und erst ein halbes Jahrtausend später vom »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« die Rede war. Die Geschichte wird so zum Fortschritt des Deutschtums: »Viele Probleme, die Otto der Große mit den Fürsten hatte, hat Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel – in anderer Form – noch heute mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer. Nur geht es heute nicht mehr um Mord und Totschlag, sondern vor allem um Geld.« Schade an sich, die Vorstellung, dass Roland Koch enthauptet wird, weil er im Bundes­rat falsch abstimmt, hat durchaus ihren Reiz.
Das mittelalterliche Reich, ein lockeres Bündnis des Hochadels, hätte sich im Rahmen der Entwicklung vom Feudalismus zu Absolutismus und Republik durchaus in mehrere Staaten aufteilen können. Deren Legitimität ließe sich aus den Besonderheiten der Traditionen von Bajuwaren, Friesen und anderen potenziellen Nationen mühelos herbeimythologisieren, und angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts kann kein Zweifel daran bestehen, dass dies die bessere Lösung gewesen wäre. Denn für die Industrialisierung hätten die Ressourcen in jedem der vier oder fünf Staaten ausgereicht, nicht aber dafür, zwei Weltkriege zu beginnen.
Des Gedenkens wert wäre deshalb eher der 165. Ge­burtstag Ferdinand Cohen-Blinds (13. März), eines Liberalen, der sich auf die Tradition der Revolution von 1848 berief und eine demokratische Republik anstrebte. Bismarck bereitete 1866 gerade den ersten Reichsgründungskrieg gegen Österreich vor, als Cohen-Blind ihn zu erschießen versuchte. Er wählte jedoch einen Revolver mit zu geringer Durchschlagskraft. Dass der Publizist Franz Ziegler sogar im preußischen Berlin »überall, besonders in unteren Schichten, ein Bedauern über das Nichtgelingen« bemerkte und in Süddeutschland zahlreiche Hymnen auf Cohen-Blind gedichtet wurden, belegt einen weit verbreiteten Widerwillen gegen das autoritäre nation building. So gibt es im Gedenkjahr wenigstens eine gute Nachricht: Sogar vielen Deutschen musste die Nation erst aufgezwungen werden.