Migration, Islam und Mehrheitsgesellschaft

Identität als Spielmarke

Vom 19. bis 21. September veranstaltet die rechtsextreme Partei »Pro Köln« einen großen »Anti-Islamisierungskongress« in Köln (Jungle World 30/08). Zum Anlass nimmt sie den Bau einer Moschee in Köln durch die Ditib, den deutschen Ableger des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) des türkischen Staats. Verschiedene Gegenaktionen sind angekündigt. In diesem Zusammenhang kam es zu heftigen Diskussionen unter den verschiedenen linken Gruppen darüber, inwiefern man die Aufrufe zum Protest gegen die Rechtsextremisten mit einer eigenen Kritik am Islamismus verbinden müsse.

»Pro Köln« greift mit dem Kongress in gesellschaft­liche Auseinandersetzungen ein, in denen »der Islam« im Zentrum steht: von Debatten über Einwanderung und nationale Identität bis zur Sicherheitspolitik. Spätestens seit der – zumindest offiziellen – Anerkennung, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, sowie den Anschlägen vom 11. September 2001 avanciert der Islam dabei zunehmend zur Kontrastfolie für das Selbstbild der Mehrheitsgesellschaft. Hier ist der Einsatzpunkt für »Pro Köln«, auch wenn deren Ethnopluralismus sich nicht mit dem Selbstverständnis des liberalen Mainstreams als demokratisch, säkular, aufgeklärt und universalistisch deckt.
Aber eben die selbstgerechte Beanspruchung von Demokratie, Säkularismus, Aufklärung und Universalismus für die eigene »Kultur« wird durch die Forderungen von Muslimen nach Teilhabe in Frage gestellt, denn die Auseinandersetzungen zeigen die kulturelle Imprägnierung des »säkularen« Staats auf. So gibt es in Deutschland wie in vielen anderen europäischen Ländern eine Privilegierung der christlichen Kirchen gegenüber anderen Religionsgemeinschaften: Religionsunterricht, theologische Fakultäten an den Universitäten zur Ausbildung des Kirchenpersonals, Kirchen­steuer usw.
Während »Pro Köln« jegliches Zugeständnis als Islamisierung brandmarkt, bemühen sich die gegen »Pro Köln« protestierenden Bürger um Integration. Als gute liberale Staatsbürger gehen sie davon aus, dass sich diese Imprägnierungen durch das demokratische Gespräch auf lange Sicht abbauen lassen. Die Staatsbürger bestehen aus zwei Fraktionen von Liberalen, die unterschiedliche Vorstellungen von Integration haben und die hier nur im antifaschistischen Konsens vereint sind. Das Bündnis, das zu einer Blockade des »Pro-Köln«-Kongresses aufruft, enthält sich folglich jeglicher politischer Aussage, was die Forderungen von Muslimen nach Teilhabe und die staatliche Integrationspolitik betrifft.
Die eine Fraktion beruft sich auf Konzepte aus der heroischen Phase des Bürgertums, als Kant und Goethe noch auf eine Überwindung der nationalen Fragmentierung in einer Weltbürgergesellschaft hofften. Mehr Realismus zeigt sich bei den anderen, den ernüchterten multikulturellen Liberalen, die um die strukturellen Benachteiligungen von Migranten wissen und dagegen die Quotenregelungen und andere »affirmative action« empfehlen.

Die klassischen Liberalen vermuten hier nicht ganz zu Unrecht die Gefahr des Verrats am eigenen Projekt, dass nämlich durch solchen Multikulturalismus Gruppenidentitäten eher gestärkt als aufgelöst werden, indem »Kultur« als bestimmende Substanz für die Handlungen der Individuen verstanden wird. Hier erkennen sie zu Recht Überschneidungspunkte des Multikulturalismus zum Ethnopluralismus der Rechten. Die klassischen Liberalen neigen aber dazu, den strukturellen Aspekt der Auseinandersetzung, dass hier eine Minderheitenposition einer unwilligen Mehrheitsposition etwas abzuringen versucht, auszublenden.
Die aus dem Universalismus zumeist zu Recht folgende Ablehnung von Gruppenrechten für Muslime erlaubt der Rechten, das Ende von Multikulti zu verkünden und in universalistischer Rhetorik Muslimen allgemeine Rechte wie die Staatsbürgerschaft zu verweigern. Der Fortschrittsglaube der klassischen Liberalen mit der Idee der Weltbürgergesellschaft als glücklicher Ausgang des Kampfes aller gegen alle ist für die meisten (abgesehen von den Emphatikern für »globale Rechte«) in weite Ferne gerückt. Die Globalisierung hat keine Homogenisierung gebracht, sondern Differenzen gestärkt. Es herrscht Ratlosigkeit nicht nur bei den Liberalen, sondern auch bei den traditionellen Marxisten, die darauf vertrauten, dass Kapital und Bürgertum die Weltgesellschaft schaffen werden, wo nur noch das Machtverhältnis zugunsten eines schon vereinheitlichten Proletariats geändert werden muss.
Der Wert setzt den Maßstab, an dem alle gleichermaßen sich zu messen haben. Die Durchsetzung erfolgt aber in der Konkurrenz um den Profit. Das Prinzip der Konkurrenz stellt dem Prozess der Homogenisierung durch den Wert einen Prozess der Differenzierung zur Seite. Konkurrenz bedeutet nicht nur den Zwang zur Entfesselung der Produktivkräfte, sondern auch das Ausnutzen von selbst nur kurzfristigen oder räumlich begrenzten Wettbewerbsvorteilen.

Alles Ständische verdampft, aber die Hoffnung, dass die Menschen dann ihre Beziehungen mit nüchternen Augen betrachten werden, ist enttäuscht worden. Denn der Einzelne wird an das Schicksal »seines« Nationalstaats in der Weltmarktkonkurrenz gebunden, die Nation dient als Kitt einer in der Konkurrenz gespaltenen Gesellschaft und zieht die Legitimität ihrer vorgestellten Gemeinschaft aus adaptierten und erfundenen Traditionen. So begründet Europa seinen Anspruch auf einen Posten als Weltmacht mit dem »Universalismus« einer abendländischen, jüdisch-christlichen Tradition: vom antiken Humanismus der sklavenhaltenden Griechen über den Begriff der Menschenwürde des gottähnlichen Schöpfungswesens im Christentum der Inquisition.
Das Pochen auf seinen Ursprung kulturalisiert den Universalismus, und die Idee des Weltbürgertums verkommt zu einer schlechten Besonderheit. Nach dem Fortschrittsglauben kommt die Besinnung auf die Tradition. Die auf Tradition begründete kulturelle Identität wird zur Spielmarke, mit der man sich eine gesicherte Position in der Konkurrenz zu erkaufen hofft und von der der Zugang zur Nation abhängt. Der Einlass z.B. eines ethnisierten Teils der Arbeiterklasse in die »vorgestellte Gemeinschaft« wird an eine Integration geknüpft, die teilweise als Unterwerfungsforderung erfahren wird und oft auch so gemeint ist.
Die Konsequenzen dieses Ausschlusses bringen aber nicht nur SPD- und Grünen-Wähler hervor, sondern eine Vielzahl von identitätspolitischen Strategien der Ausgeschlossenen. Das Bündnis für die linksradikale Demonstration am Abend vor dem »Pro-Köln«-Kongress versucht zumindest, diese Konsequenzen zu thematisieren. Die Verortung von muslimischen Migranten erfolgt in einem Spannungsverhältnis von Bezügen auf das Einwanderungsland, auf das Herkunftsland sowie auf den Islam als Weltreligion.
Die vom Einwanderungsland Ausgeschlossenen werden auf ihre Herkunftsnationalität zurückgeworfen. Die Vorstellung von den Verhältnissen im Herkunftsland kreiert unter der Situation der Diaspora ein Heimatland der Phantasie. Die Diaspora wendet die im Einwanderungsland erfahrene Stigmatisierung als Muslim und Migrant in eine Auszeichnung um. Die Folge ist ein Nationalismus, der sich den besonders islamischen und nationalistischen Gruppen vor Ort zuwendet und diese unterstützt. So nehmen die Bilder der Diaspora Einfluss auf das Herkunftsland.
Angesichts des Lebens in der Diaspora und der Krise in den Herkunftsstaaten hält sich die Identifikation mit diesen in Grenzen. Eine pan-islamische Gemeinschaft ist zur utopischen Alternative politischer Bewegungen zu den gescheiterten Modernisierungsstrategien der arabischen Staaten geworden. Diese transnationale Ideologie mit antiimperialistischer Rhetorik nimmt auch Einfluss auf das Selbstverständnis der in Europa lebenden Muslime. Die von Islamisten einerseits wie von der Mehrheitsgesellschaft andererseits behauptete Unvereinbarkeit von Islam und »westlichen« Werten wird angenommen und zur Selbst­auszeichnung gegen den Integrationsdruck, den der Alltag mit der Mehrheitsgesellschaft ausübt.

Der Islam, der hierbei angenommen wird, erfährt eine Transformation. In der Diasporasituation werden Traditionen zwar zur Bildung von Solidaritätsstrukturen zeitweise gestärkt, aber sie stehen unter starkem Legitimitätsdruck angesichts der fehlenden gesellschaftlichen Basis. Der Islam wird deshalb in der zweiten Generation eher selbst­bewusster gelesen und zudem von den Traditionen der jeweiligen Herkunftsländer gereinigt. Diese Transformation führt sowohl zu feministischen wie auch zu aktuellen salafistischen Interpretationen von Tariq Ramadan bis al-Qaida. Diese unter Umständen gefährliche Transformation lässt sich nicht durch Förderung traditioneller, nationalbasierter Gruppen – wie die Ditib – aufhalten. Denn ein vom Herkunftsland kontrollierter Islam gerät unter Rechtfertigungsdruck, sich anzumaßen, das Leben in der Diaspora regeln zu wollen.
Die Neuaneignung des Islam jenseits der Tradition als Sinnstiftung für das eigene Leben verweist also nicht so sehr auf eine kulturelle Eigenheit sondern auf die strukturelle Situation der Diaspora. Außerdem sollte auch ein Zusammenhang hergestellt werden mit der allgemeinen Form der religiösen Erfahrung, die die Subjekte unter kulturindustriellen, kapitalistischen Verhältnissen machen. Wie das religiöse Erlebnis für diese Subjekte aussieht, kann man in der Begeisterung der Mehrheitsgesellschaft für New Age und den Dalai Lama sehen, aber auch an Phänomenen wie dem Erfolg des katholischen Weltjugendtags und der Menge der zum Islam Konvertierten.
Mit der Ernüchterung über Zukunftsversprechen des Kapitalismus ist ein Subjekt entstanden, dessen Strategien zur Selbststabilisierung in der Konkurrenz verheerende Folgen haben können. Deshalb ist das Stellen der Frage nach der Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens und das Streben nach selbstbestimmter Zukunftsgestaltung auf Grundlage eines wirklich universalen Universalismus jenseits von Kapital, Staat und Nation zumindest ein Grund, heute Kommunist zu sein und den Kölner Kongress mit den dazu nötigen Mitteln verhindern zu wollen.