Serie über Serien: »Cracker«

Die Straßen von Manchester

Serie über Serien. Magnus Klaue findet, dass die Krimiserie »Cracker« ein Geschenk für alle ist, die sich von »Tatort« und »CSI« belästigt fühlen

Während der Fernsehkrimi der siebziger Jahre eine Domäne der Einzelpersönlichkeiten war, die wie Columbo oder Kojak allenfalls nebengeordnete Assistenten hatten und ihre Fälle durch soziale Empathie und eine freundliche Spielart des gesunden Menschenverstands lösten, kennt der heutige Fernsehkrimi fast nur abgebrühte Fachleute und Teams. Formate wie »CSI« räumen endgültig mit der Agatha-Christie-Legende vom perfekten Verbrechen auf und suggerieren, dass niemand in krimineller Absicht einen Raum betreten kann, ohne Partikelspuren zu hinterlassen, die dem Experten Geschlecht, Alter, Wohnort und Deodorant des Übeltäters verraten. Dialogfetzen wie »Wann kommen denn die Ergebnisse der Poly­elektrolyse?« oder »Wir haben die DNA-Segmente neohydraulisch gescannt« tun ein übriges, den Glauben an den Rechtsstaat zu festigen.
Gegenüber solch technokratischem Populismus, der sich bestens mit der autoritären Menschlichkeit deutscher Fernsehserien verträgt, weiß der britische Fernsehkrimi seit jeher mit Provokationen aufzuwarten. Die Krimi­serie »Cracker« mit Robbie Coltrane als Psychologe und Kriminalist Eddie Fitzgerald, die 1993 bis 1995 für den Sender ITV produziert und 1995/96 unter dem dummdeutschen Titel »Für alle Fälle Fitz« im ZDF ausgestrahlt wurde, hat mit der Expertenideologie aufgeräumt, bevor sie zur Mode werden sollte. »Fitz«, für den der als Stand-Up-Comedian bekannt gewordene Coltrane gegen seinen Typ besetzt wurde, ist zwar freiberuflicher Polizeipsychologe, wird von den Kollegen jedoch belächelt und löst seine Fälle nur, um seine Schulden bezahlen zu können. Er ist nämlich – auch das macht ihn zum Fremdling in der Fernsehlandschaft – bekennender Spieler, Kettenraucher und Genuss­alkoholiker. Seine Ehefrau Judith (Barbara Flynn) kann keine Sympathieträgerin sein, weil sie sich im Laufe der Folgen, die zwar in sich abgeschlossen sind, aber eine übergreifende Geschichte erzählen, in eine verhärmte Egozentrikerin verwandelt.
Überhaupt ist es die Stärke des Autors Jimmy McGovern, dem Publikum in keiner der neun, meist zweieinhalbstündigen Folgen eine unproblematische Identifikationsfigur vorzusetzen. Insbesondere das Polizeiteam, mit dem Fitz in Manchester kooperiert, wird systematisch demontiert. Der ehrgeizige, überforderte Chief Bilborough (Christopher Eccleston) wird in Episode vier von einem prekarisierten, amoklaufenden Normalbürger er­stochen und durch den älteren, so freundlichen wie durchsetzungsschwachen Charles Wise ­(Ricky Tomlinson) ersetzt. Der Ire Jimmy Beck (Lorcan Cranitch), der seine Minderwertigkeitskomplexe durch Wüten gegen »Kinderschänder« und »Schwächlinge« auslebt, vergewaltigt in Folge sechs seine Kollegin Jane Penhaligon (Geraldine Somerville) und trägt dabei die Maske eines Serienvergewaltigers, dem die Tat denn auch angelastet wird. Auch nachdem Penhaligon, die die Wahrheit bald zu ahnen beginnt und sich dem Hass ihrer Kollegen aussetzt, Beweise für ihre Vermutung findet, wird der Fall nicht gelöst. Beck stürzt sich in der siebten Folge mit einem Prostituiertenmörder, den er eigenhändig seiner Bestimmung zuführen will, von einem Hochhaus; Penhaligon quittiert in Episode neun den Dienst.
Ein befriedigendes Ende kennt keine der Folgen, durch die sich das Thema der Vergewaltigung als Ausdruck einer Realität zieht, die mit der Logik von Recht und Ordnung ebenso unvereinbar ist wie mit dem Ressentiment, wonach man die Großen laufen lasse. Wie die Ordnungshüter in »Cracker« habituelle Triebtäter sind, sind die Mörder nicht nur Opfer, sondern eben tatsächlich brutale Charaktere, die sich als Objekte sozialkritischer Identifikation kaum eignen. Grundiert von Jazzmelodien, vom notorisch schlechten Wetter und (im Original) vom wunderbaren Manchester- und Liverpool-Englisch, zeichnet »Cracker« so das Bild einer Gesellschaft, in der es gute Menschen weder unter den Guten noch unter den Bösen gibt und Gewalt und Sucht als einzige Möglichkeiten erscheinen, die Existenz zu ertragen.