Streik-Terror total!
Warum streiken?
Ganz Deutschland ist sich einig: Der Aufschwung muss ankommen! Aber keineswegs irgendwo, sondern: endlich bei den Bürgern, auch bei den Staatsdienern, bei allen, bei der Mehrheit der Menschen, jetzt bei allen, endlich bei Ihnen, auch bei den kleinen Leuten, bei den Leuten endlich auch, irgendwann auch beim »kleinen Mann«, bei jedermann, auch bei den Menschen, schneller bei den Leuten ankommen, bei allen Menschen, endlich bei den Beschäftigten, endlich bei uns, endlich auch »unten«, endlich auch bei euch, endlich bei der vergessenen Mitte, endlich bei denen, die jeden Tag hart dafür arbeiten, auch in unseren Taschen, endlich auch in Südniedersachsen, auch bei uns Arbeitnehmern, endlich auch im öffentlichen Dienst und bei den Beamten, endlich auch in den Geldbeuteln der Bürger, bei jedem, beim »Volk«!
ivo bozic
Wie streiken?
Hannover. Arbeitskampf extrem in der niedersächsischen Landeshauptstadt: Die Bus- und Bahnfahrer der sympathischen Metropole an der Leine klemmen den Lebensnerv der Stadt ab – das geschäftige Pulsieren in den vielen Äderchen des sensiblen Nahverkehrsnetzes kommt zum Erliegen. Trotz des High-Tech-Superevents Cebit sind die zu allem entschlossenen Beschäftigten im Kampf um mehr Lohn zu keinen Zugeständnissen bereit, Busse und Bahnen bleiben in den Depots, Garagen und Werkhallen – und das von drei bis sieben Uhr früh! Brigitte G. erinnert sich mit Schaudern: »Es war schrecklich. Die Stadt war bis sieben Uhr vollkommen lahm gelegt. Zum Glück habe ich bis halb acht geschlafen.« Und auch an anderen empfindlichen Stellen schlagen die Streikenden zu: Statt friedlichen Badeszenen spielen sich im Vahrenwalder Bad kriegsähnliche Zwischenfälle ab. Roland S. macht gerade eine Bombe vom Ein-Meter-Brett, da gibt der Bademeister den Marschbefehl: »Alle raus!« Roland S. muss den Schock erst noch verkraften: »Das Bad macht sonst immer um 17 Uhr zu, nicht um 14 Uhr. Dabei wollte ich noch in die Sauna!« So heiß wie in diesem Arbeitskampf dürfte es dort aber ohnehin nicht werden.
Ravensburg. Blockade-Boss Bsirske beordert seine kämpferischen Kollegen vor das Tor des Betriebshofs der sonst so friedlichen, oberschwäbischen Stadt. Bedrohlich bauen sich die Posten zu einer undurchdringlichen Streikfront auf. Bürger wie Günther W. sind beunruhigt: »Nur mal angenommen, jemand würde den Betriebshof irgendwann wirklich betreten wollen – er würde das in dem Fall ja gar nicht schaffen!« Auch beim kommunalen Arbeitgeber liegen die Nerven blank. Oberbürgermeister Hermann Vogler bekennt: »Wenn ich vor Ort gewesen wäre, hätte ich mich unter Umständen vielleicht sogar aufgeregt!«
Stuttgart. Der als überaus radikal berüchtigten Verdi-Jugend der Stadt gelingt es, die Proteste an sich zu reißen. Statt auf eine Einigung setzt sie auf Eskalation! Die Situation spitzt sich unerträglich zu. Dann zeigt sich die hässliche Fratze des Klassenkampfs: Die jungen Genossen werfen sich eine lange Bahn grünen Stoffs über, stecken ihre Köpfe durch Öffnungen im Tuch. Wie eine vielköpfige, gefräßige Lohn-Raupe setzt sich das Malocher-Monster in Bewegung. Der gefürchtete »Jugend-Lindwurm« von Verdi hat wieder einmal zugeschlagen!
Würzburg. Die beschauliche Bischofsstadt in Unterfranken steht Kopf. Der gewaltige Verdi-Demonstrationszug (1 000 Teilnehmer) belastet die über Jahrhunderte gewachsene Ruhe und Ordnung der Stadt bereits bis an die Grenzen. Dann greifen die Streikenden auch noch zu militanten Protestformen: Quietschrote Fähnchen stechen schmerzhaft ins Auge, Pfeifentrillern zerreißt das Trommelfell. Aua, aua, dieser Streik tut weh!
Offenbach. Sogar die Beschäftigten des Deutschen Wetterdienstes treten in den Ausstand. Wird die Sonne jemals wieder über Deutschland strahlen?
markus ströhlein
Welcher Streik?
Allerorts herrscht plötzlich die nackte Angst und blindwütiges Geschrei: »Busse und U-Bahnen fahren nicht mehr!« Der gesamte Fahrbetrieb in der Hauptstadt sei lahmgelegt, die Beschäftigten hätten sich in heimtückischer Weise gegen die Bevölkerung verschworen, indem sie radikal die Arbeit verweigern, unwirsch die Erteilung von Auskünften ablehnen und mit den Fahrgästen insgesamt nicht anders umspringen würden als mit Küchenschaben.
Dabei unterscheidet sich ein solches Verhalten der im öffentlichen Nahverkehr beschäftigten Streikenden gerade in Berlin nicht im mindesten von dem, das sie üblicherweise an den Tag legen und als ihre »Arbeit« bezeichnen.
Wie albern, wie hysterisch und vollständig unbegründet die Aufregung über das als »Streik« bezeichnete derzeitige Gebaren der Bus- und U-Bahnfahrer ist, bemerkt man, wenn man sich einmal der Mühe unterzieht, bei dem, was uns als »Streik« verkauft wird, genauer hinzusehen. Spätestens dann nämlich muss man sich fragen: Ist es noch Service oder ist es schon Streik? Wo genau liegt eigentlich der Unterschied?
Kommt einem das rüde Gezeter des Busfahrers, der die Arbeit niedergelegt hat (»Ick fahr kein!«, »Geld wollnwa!!«), nicht vor wie das alltägliche rüde Gezeter des arbeitenden Busfahrers (»Fahrschein!«, »Watt wollnse?!«)? Ist der so genannte Streik eines im Wachzustand befindlichen »Kundenberaters« auch nur im geringsten zu unterscheiden von dem komaähnlichen Zustand, in dem er täglich hinter dem Schalter hockt? Ist etwa das träge, sinnentleerte Herumstehen der Kaffee schlürfenden Streikposten, die einen Schwatz abhalten, etwas anderes als das träge, sinnentleerte Herumstehen des Kaffee schlürfenden »Servicepersonals«, das während der »Arbeit« einen Schwatz abhält? Ist der eingerichtete »Notverkehr«, wo man mit Glück nur alle zwei Stunden den Launen eines Berliner Busfahrers ausgesetzt ist, nicht eine Wohltat im Vergleich zu den fortwährenden Demütigungen, die ein normaler Fahrgast während des normalen Fahrbetriebs über sich ergehen lassen muss (»DU!«, »RAUS!«, »SCHNAUZE!«)?
Unter diesen Umständen empfiehlt es sich dringend, ein ganz und gar neuartiges, revolutionäres Lohnmodell einzuführen, das speziell bei Angestellten der BVG zur Anwendung käme und einem erzieherischen Zweck diente: Ein höherer Lohn wird lebenslang nur dem ausbezahlt, der die Arbeit unwiderruflich für den Rest seines Lebens niederlegt.
Thomas Blum