Versteht Gott Türkisch?

Das Leben der Aleviten in der Türkei war Jahrhunderte lang gekennzeichnet von Unterdrückung und Verfolgung. Die umstrittene »Tatort«-Folge »Wem Ehre gebührt« wird daher als geschichtsvergessen empfunden. von sabine küper-büsch, istanbul

Veli Akkol zwirbelt ruhig die Enden seines gepfleg­ten Schurrbartes. Er ist der Dede, die religiöse Autorität des Istanbuler Alevitenzentrums Sahkulu. Auch in der Türkei hat die »Tatort«-Folge »Wem Ehre gebührt« Empörung ausgelöst, doch die Reaktionen sind nicht mit denen der Aleviten in Deutschland vergleichbar. »Der Film greift Elemente von Vorurteilen gegenüber Aleviten auf, die durch Jahrhunderte als Verleum­dungen empfunden wurden«, sagt Akkol ernst.

Der Semah-Tanz etwa gehört zu den Riten des alevitischen Gottesdienstes »Cem«. In Gesängen wird die Geschichte von Ali und den zwölf Imamen erzählt, während die Semahzen sich dazu im Kreise drehen. »In alten Zeiten wurde von islamischen Fundamentalisten das Märchen erfunden, die Aleviten würden während des Cem die Lichter löschen und Männer und Frauen würden dann übereinander herfallen«, berichtet Akkol. »Die Form des gemeinsamen Gebets und unsere nicht nach sunnitischer oder schiitischer Sitte verschleierten Frauen galten als anstößig. In Gerüchten wurden unsere Riten grotesk entstellt dargestellt.«

Vor allem der Inzest-Vorwurf hat sich in der Türkei lange gehalten. Es existiert sogar ein Sprich­wort über die Aleviten, in dem die Rede davon ist, sie seien die, »die Mutter und Schwester (im Dun­keln) nicht erkennen« würden. Das Alevitentum unterscheidet sich sowohl vom sunnitischen als auch vom schiitischen Islam vor allem durch eine liberalere Religionspraxis. Es gibt keine Verschleierungsbräuche, sondern Anleitungen, die dem Christentum ähneln und zu Monogamie und Tugendhaftigkeit verpflichten.

»Die Aleviten haben sich aus unterschiedlichen Strömungen entwickelt, der Semah etwa stammt aus dem Schamanentum«, erzählt Akkol, der sich sicher ist, dass der Konflikt in Deutsch­land auf fehlendem Wissen über die Aleviten beruhe. »Wir glauben auch nicht an die Heiligkeit der Spra­che des Koran. Im anatolischen Alevitentum fragen wir uns, soll Gott etwa kein Türkisch verstehen? Wir erlauben uns eine Übersetzung und Interpretation des Koran, so dass er, als eine Schrift, die vor 14 Jahrhunderten entstanden ist, auch noch unserem heutigen Zeit­alter entspricht.«

Die Ablehnung der für die Sunniten und Schiiten fundamentalen, auf den heiligen Schriften beruhenden Rechtsprechung durch die Aleviten war vor allem zu Zeiten des Osmanischen Reichs Auslöser politischer Macht­kämpfe. Insbesondere in ländlichen Regionen flossen lokale, vorislamische Überlieferungen mit islamisch-schiitischen und mystischen Elementen zusammen und ergaben eine vor allem auf münd­licher und musikalischer Überlieferung basierende Religionskultur, die sich als dezidiert kritisch gegenüber dem osmanischen Zentralstaat und der orthodoxen Geistlichkeit verstand. Statt der Moschee rückten bei den Aleviten Cem-Versammlungshäuser in den Mittelpunkt des religiösen Lebens, statt des islamischen ritualisierten Gebets gab es mystisch-verehrende Musik und Tänze. Anstelle orthodoxer Schriftkunde trat die mündliche traditionelle Überlieferung, vorgetragen von begabten Poeten und Sängern sowie vor allem von den »heiligen Familien« der Dedes und Anas (spi­rituellen Vätern und Müttern), die sich auf Ali und seine Nachkommen zurückführen.

Die osmanischen Sultane waren wenig begeistert von der Autarkie des anatolischen Alevitentums. Immer wieder kam es daher zu Übergriffen des Staats bzw. dem Staat nahe stehender nationalreligiöser Hooligans wie auch umgekehrt zu anti-osma­nischen Aufständen, bevor sich ein Modus vivendi entwickelte: Die Aleviten verzichteten auf jede Form der Missionierung und Kanonisierung, die die Orthodoxie hätte herausfordern können. Dafür wurde ihnen in ihren Dörfern meistens ein eigenes, kulturell-religiöses Leben zugestanden.

Durch die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts veränderte sich die Situation der Aleviten drastisch. Mit dem Wegzug aus den Dörfern in die wachsenden türkischen Großstädte haben die Tra­ditionen und das Gemeinschaftsgefühl an Bedeutung verloren. Sowohl von orthodox-religiöser wie auch von türkisch-rechtsextremer Seite wurden nicht assimilierte Aleviten massiv verleumdet und teilweise auch angegriffen. Umgekehrt strömten Aleviten in linke Gewerkschaften und Parteien, und die Wahrnehmung »alevitisch gleich links, sunnitisch gleich rechts« verwischt bis heute politische und religiöse Konfliktlinien.

Tief eingegraben in das kollektive Gedächtnis der Aleviten haben sich die Pogrome von Maras (1978) und Sivas (1993). Als am 19. Dezember 1978 in einem Kino in Maras der nationalistische Film »Wann ist Sonnenaufgang« gezeigt wurde, detonierte ein Sprengsatz, durch den zwar niemand zu Schaden kam, der jedoch sofort den »alevitischen Kommunisten« in die Schuhe geschoben wurde. Am Rand der Beerdigung zweier alevitischer linker Lehrer kam es zu Ausschreitungen zwischen Aleviten und Ultranationalisten, die zwei Todesopfer und 50 Verletzte forderten. Is­lamisten und Ultranationalisten betrachteten die Aleviten als »Ursprung dieser heidnischen Gewaltaktionen«. Zur Vergeltung tobte ein bewaffneter Mob durch die Alevitenviertel und tötete harmlose Unbewaffnete in ihren Häusern. Nach offiziellen Angaben gab es zwischen dem 22. und dem 25. Dezember 1978 111 Tote auf alevitscher Seite. In Sivas starben im Jahr 1993 37 Menschen (Aleviten und sunnitische Intellektuelle) in einem Hotel, das von Rechtsextremen und Islamisten angezündet worden war. Diese hatten es vor allem auf den Schriftsteller Aziz Nesin abgesehen, der die »Satanischen Verse« von Salman Rushdie ins Türkische übersetzen wollte. Nesin überlebte leicht verletzt.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan machte sich 2006 bei den Aleviten sehr unbeliebt, weil er ihren Wunsch nach offizieller Anerkennung und staatlicher Unterstützung mit den Worten, sie könnten doch statt im Cem-Versamm­lungshaus auch in der Moschee beten, ablehnte. »Das war eine unverzeihliche Respektlosigkeit«, schnaubt Dede Veli Akkol, »wie kann eine solch alte Tradi­tion wie die unsere immer noch so missverstanden werden?«

Die alevitische Empfindlichkeit hat nachvollziehbare Gründe. Eine Alevitin in einem deutschen Film, die, tief beeindruckt von dem sunnitischen Schwager, ein Kopftuch trägt, weil der Vater sie zu­nächst geschwängert und dann zur Vertuschung die ältere Schwester umgebracht hat, sei ein star­kes Stück, das finden auch die Semahzen im Cem-Haus der Sahkulu-Gemeinde. »Das wäre wie die Hochzeit zwischen Hillary Clinton und Ussama bin Laden, nachdem al-Qaida New York besetzt hat«, sagt eine junge Frau lachend.