Mindestens ein satter Hungerlohn

Immer mehr Unternehmer entdecken die Vorteile, die gesetzlich geregelte Mindestlöhne für sie mit sich bringen können – wenn sie nur niedrig genug sind. von lutz getzschmann

Manchmal folgt eine politische Debatte erst weit nach den realen Entwicklungen. Was das Thema Mindestlöhne angeht, haben viele Politiker bereits gänzlich den Anschluss verloren, sogar an ihre eigenen Taten und Beschlüsse. So bietet etwa der Bundespräsident Horst Köhler Anlass zur Sorge. Vor wenigen Tagen verwies er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf die Risiken von Mindestlöhnen, da sie nicht von allen Unternehmern gezahlt werden könnten. Dabei unterschrieb er selbst kürzlich die Novelle des Entsendegesetzes und machte damit einen Mindestlohn für Briefträger möglich.

Da Prekarisierung und sinkende Löhne mittlerweile öffentlich debattiert werden und der Druck auf die Bundesregierung, die Parteien und die Unternehmer wächst, dem Lohndumping entgegenzuwirken, wollen auch die Unternehmerverbände mitreden. Denn Mindestlöhne – deren Einführung sie wohl ohnehin nicht verhindern können – bringen möglicherweise auch ihnen Nutzen, wenn sie nur niedrig genug sind. Mit dem Untergang des Postdienstleisters Pin hat sich in jener Branche gezeigt, dass ein solches Instrument etwa dazu taugen kann, sich unliebsame Billigkonkurrenz vom Hals zu halten. In diesem Fall ist es der Deutschen Post AG zumindest zeitweilig gelungen, die privaten Anbieter auszumanövrieren.

»Es sollte einen Mindestlohn in der Zeitarbeits-, Entsorgungs- und Sicherheitsbranche geben«, sagte erst vor wenigen Tagen der Präsident des Bundesverbandes Zeitarbeit (BZA), Volker Enkerts, der Frankfurter Rundschau. Doch die Forderung der Unternehmer weicht erheblich von jener der Gewerkschaften ab. Ein Mindestlohn von 9,80 Euro, so wie er für die Briefzusteller gilt, sei für die Zeitarbeitsbranche nicht möglich, meint Enkerts. Daher habe er sich mit dem DGB auf einen Stundenlohn von 7,15 Euro geeinigt. Dies sei auch eine Bezahlung, mit der die Menschen leben könnten, fügte er hinzu. Rein zufällig entspricht der vorgeschlagene Stundenlohn genau dem des Rahmentarifvertrags Zeitarbeit ohne Zuschläge. Was nichts anderes bedeutet, als dass die Mitgliedsunternehmen des BZA ihren bescheidenen tariflichen Standard auf die gesamte Branche ausdehnen und damit Zeitarbeitsfirmen unter Druck setzen wollen, die bisher noch weniger zahlen.

Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen (BDWS), Harald Olschok, sprach sich ebenfalls für Mindestlöhne aus. Er unterbietet seinen Unterneh­merkollegen aber deutlich und sieht »vier bis fünf Euro als gerade noch verkraftbar« an. Bereits jemand, der fünf Euro pro Stunde verdient, liegt bei einer Vollzeitstelle weit unter der Armutsgrenze.

Inzwischen arbeiten 170 000 Menschen in der Sicherheitsbranche, die seit Jahren kontinuierlich boomt. Sie arbeiten als Wachleute in U-Bahn­höfen, Einkaufszentren, Verwaltungen oder Firmen, sie fungieren als Ordner bei Fußballspielen, sie fahren Geldtransporter, oder sie sitzen als Empfangspersonal oder Messehostessen hinter Schaltern. Starke Abstufungen und Lohnunterschiede zwischen den Beschäftigten sind an der Tagesordnung. Der BDWS listet allein 280 verschiedene Lohngruppen auf.

Die Kluft verläuft einerseits zwischen ost- und westdeutschen Bundesländern, andererseits zwischen Hochqualifizierten, die die Überwachungstechnik in den Schaltzentralen bedienen, und Niedrigqualifizierten, die auf Parkplätzen Streife laufen. Die Auswüchse des Lohndumpings sind so dramatisch wie in kaum einer anderen Branche: Ein Wachmann bekommt in Thüringen nach Tarif gerade einmal 4,36 Euro brutto pro Stunde, in anderen Teilen Ostdeutschlands kaum mehr. Viele Firmen unterbieten die Tariflöhne noch.

Die Lösung heißt für viele: mehr arbeiten. »Eine 40-Stunden-Woche kann man vergessen«, zitiert die taz einen Betriebsrat der Unternehmensgruppe Gegenbauer. »Die Leute interessiert nur eins: richtig Stunden machen.« Knapp die Hälfte der rund 1 000 Berliner Mitarbeiter arbeite so viel, wie erlaubt sei – 240 Stunden im Monat.

Der BDWS will für seine Branche einen Antrag auf die Aufnahme ins Entsendegesetz stellen, was Verdi ablehnt. Die Unterstützung der Gewerkschaft ist jedoch zwingend für einen solchen Antrag erforderlich. »Es macht für uns keinen Sinn, für das Bewachungsgewerbe Armutslöhne tarifvertraglich abzusegnen, die deutlich unter 7,50 Euro liegen sollen«, erklärte der Leiter der Abteilung Tarifpolitik bei Verdi, Jörg Wiedemuth, der Financial Times Deutschland.

Verdi setzt stattdessen auf das Mindestarbeitsbedingungsgesetz aus dem Jahr 1952, das derzeit überarbeitet wird. Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) will den novellierten Gesetzentwurf, der noch in diesem Frühjahr in Kraft treten soll, in Kürze vorlegen. Nach den Plänen der Koalition soll das neue Gesetz branchenbezogene Mindestlöhne ermöglichen, wenn in einer Branche weniger als 50 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen arbeiten. Auf diesem Wege hofft die Gewerkschaft, deutlich höhere Mindestlöhne für das Bewachungsgewerbe erreichen zu können.

Was die Tarifparteien bewegt, dürfte unter anderem die Angst vor dem Stichtag 1. Januar 2009 sein, wenn geprüft wird, ob die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland eingeführt wird, und damit auch die Möglichkeit für polnische, lettische oder tschechische Sicherheitsunternehmen, die extrem niedrige Löhne zahlen, auf den deutschen Markt zu drängen. »In den osteuro­pä­ischen EU-Beitrittsländern werden Löhne zwischen einem und 1,50 Euro die Stunde gezahlt. Ein Mindestlohn ist nötig, um gegenzusteuern«, sagt Olschok vom BDWS. Das Entsendegesetz sei ein »scharfes Schwert, mit dem sich Lohndrücker gut bekämpfen lassen«. Sagt der Lohndrücker.

Längst gibt es ein starkes regionales Gefälle, was die Löhne innerhalb Deutschlands angeht. In Bayern verdienen die Beschäftigten des Sicherheitsgewerbes zwischen 6,75 und knapp 14 Euro brutto, was dazu geführt hat, dass etwa findige Unternehmer aus Ostdeutschland diese tariflichen Standards unterbieten und ihre Mitarbeiter 900 Kilometer weit aus Mecklenburg-Vorpommern nach München karren, um dort die S-Bahn zu bewachen.

So wie sich die Debatte derzeit gestaltet, werden Mindestlöhne den Beschäftigten in Zukunft wohl kaum zu einer Bezahlung verhelfen, von der sie leben können. Vielmehr dienen sie deutschen Unternehmern einerseits dazu, drohende Konkurrenz von vornherein unschädlich zu machen, und andererseits dazu, Löhne unterhalb des Existenzminimums langfristig als Regelfall festzuschreiben – gerade in Branchen mit besonders niedrigen Löhnen und nicht flächendeckenden Tarifverträgen.