SPD tut nicht weh

Viel Spaß in den nächsten zwei Jahren Große Koalition! Auch ohne Franz Müntefering bleiben die Regierungsparteien wider Willen aneinandergekettet, und die SPD spielt Regierung und Opposition zugleich. Die Konstellation könnte sich als vorteilhaft für die Linke erweisen. von lutz getzschmann

Vermutlich hat sich keiner der Beteiligten diese Konstellation vor zwei Jahren gewünscht. Franz Münteferings Rücktritt als Bundesarbeitsminister und Vizekanzler ist, allen privaten Gründe dafür zum Trotz, ein deutliches Zeichen für den schleichenden Rückzug der SPD aus der Großen Koalition. Sie hatten bereits fast vergessen, dass die SPD mitregiert? Das liegt weniger daran, dass sich originär sozialdemokratische Ansichten nicht durchsetzen ließen – absehbar etwa daran, wie Müntefering von der CDU im Zusammenhang mit dem Mindestlohn für Briefzusteller vorgeführt wurde –, sondern vor allem daran, dass die SPD über solche gar nicht mehr verfügt. Sieht man einmal von den wenigen kosmetischen Korrekturen wie der Verlängerung des Bezugs des Arbeitslosengeldes I für ältere Erwerbslose ab, aus denen die Medien einen »Linksruck« konstruierten.

Der Übergang von Rot-Grün zu Schwarz-Rot ging reibungslos vonstatten, und man konnte in den vergangenen Jahren darüber staunen, wie einig sich die Koalitionäre in den grund­sätzlichen Fragen waren, trotz der gelegentlich polternd zelebrierten Differenzen im Detail. Die Große Koalition hat bisher die Schrödersche Deregulierungspolitik konsequent fortgesetzt, nur dass die wesentlichen »Reformen« noch glatter über die Bühne gingen als zu Zeiten des »Basta«-Kanzlers.

Die deftige Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Ausweitung der Probezeit in Arbeitsverträgen auf bis zu zwei Jahren, die Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre, eine Unternehmenssteuerreform, die im Wesentlichen jenen großen Unternehmen nützt, die bereits ohne Steuergeschenke Rekordgewinne einfahren – dies sind nur die spektakulärsten Beschlüsse in einer ganzen Reihe von Maß­nahmen, die das wirtschafts- und sozialpolitische Profil dieser Regierung ausmachen. Einige populäre Maßnahmen zur sozialen Befriedung ergänzen es, wie etwa das Versprechen, mehr Krippenplätze einzurichten, oder die Einführung des Elterngeldes, von dem meist irrtümlicherweise angenommen wird, es komme irgendwie allen Familien gleichermaßen zugute. Der SPD blieben, um sich von den Konservativen abzuheben, nur Albernheiten wie die »Reichensteuer«, die niemanden schmerzt und kaum jemanden betrifft.

Während hart gesottene Apologeten des Großkapitals wie die Financial Times Deutschland über die »Sozialdemokratisierung der CDU« stöhnen und internationale Medien wie der Economist, die Angela Merkel lange als unerschrockene »Reformerin« gefeiert hatten, seit einiger Zeit ihre »Abkehr vom Kurs« beklagen und ihr Beliebigkeit vorwerfen, steht die SPD vor einem ungleich größeren Dilemma. Sie verliert massenhaft an Mitgliedern – seit 1998 über 200 000 – und liegt bei Wahlumfragen konstant zwischen schlechten 31 und noch schlechteren 26 Prozent. Sie muss einerseits die Reste des Sozialstaats zurechtstutzen, weil das heutzutage von Regierungen so verlangt wird. Anderseits muss sie mit linkspopulistischer Rhetorik als Opposition zur Union auftreten und gleichzeitig die Neosozialdemokraten der Partei »Die Linke« des Linkspopulismus überführen. Oder, wie Kurt Beck es in bestem Politikerdeutsch ausdrückte: Sie muss »in Berlin anständig regieren und gleichzeitig der Partei die Spielräume öffnen, die wir brauchen«.

Ausgerechnet er, dem man schon von weitem anzusehen glaubt, ihm sei es völlig egal, wie lange ältere Menschen Arbeitslosengeld I bekommen oder ob der »demokratische Sozialismus« oder andere Begriffe aus dem inhaltlichen Repertoire der Arbeiterbewegung im Parteiprogramm stehen, musste die Rolle des linken Volkstribunen übernehmen. Das sagt viel über den Zustand der SPD. Als die »echteren« Sozialdemokraten gehen heutzutage Leute wie Heiner Geißler und Norbert Blüm durch. Dafür ist teilweise sicher die Erblast der Regierung unter Schröder verantwortlich, die alles das durchsetzte, was unter Kohl nicht möglich war, weil die Gewerkschaften und Sozialverbände mit Unterstützung der SPD einen solchen Bruch mit dem bisherigen bundesdeutschen Sozialsystem vermutlich verhindert hätten. Genauso bedeutsam ist aber auch, dass absolut niemand der SPD nach neun Jahren konsequent kapitalfreundlicher Regierungspolitik ernsthaft einen »Linksruck« zutrauen würde. Da nutzte weder der inszenierte Clinch zwischen Beck und Müntefering etwas noch, per Parteitagsbeschluss die Privatisierung der Bahn zu verhindern. Die potenziellen Wähler wissen längst, dass es sich um taktische Manöver handelt und nicht mehr.

Angesichts der tiefen Gleichgültigkeit und der illusionslosen Haltung eines großen Teils ihrer Kernwählerschaft kann die SPD froh sein, nicht noch viel schlechter dazustehen. Man könnte es auch so sehen: Der Mitgliederschwund liegt nicht mehr bei 30 000 pro Jahr wie gegen Ende der Schröder-Ära, sondern nur noch bei 20 000 pro Jahr. Neuwahlen würden der SPD unweigerlich eine bittere Niederlage bescheren. Also bleibt ihr wohl nur, zwei weitere Jahre durchzuhalten, Regierung und Opposition zugleich zu spielen und bis zur Bundestagswahl 2009 mit der vermeintlichen Wiederentdeckung der sozialen Ader für sich Reklame zu machen.

Reizvoller wäre ein Koalitionsbruch für CDU und CSU, die in Umfragen derzeit deutlich in Führung liegen und mittlerweile keine Gelegenheit mehr ungenutzt lassen, die Kollegen aus der SPD zu provozieren und vorzuführen. Doch sei die Koalition »stabiler, als Merkel lieb ist«, hieß es in einem Leitartikel im Handelsblatt: »Becks SPD mag zu schwach zum Regieren sein. Aber stark genug, der Union das Regieren zu vermiesen, ist sie allemal. Zwei Jahre Wahlkampf-Hickhack werden aber auch Merkels spektakuläre Popularitätswerte nicht überleben.«

Danach ist etwa kaum davon auszugehen, dass die Koalitionspartner sich etwa auf einen Mindest­lohn für Briefzusteller einigen werden. Die SPD braucht das Thema, um sich zu profilieren, für die Union wiederum ist es eine günstige Gelegenheit, die SPD zu provozieren. Auch ist die Ausrufung von Neuwahlen nicht nur eine Frage des Wollens. Die Voraussetzung dafür wäre eine Situation, in der ein Weiterregieren wegen fehlender Mehrheiten im Bundestag oder Bundesrat nicht mehr möglich ist. Davon jedoch kann keine Rede sein. SPD und CDU/CSU haben eine stabile Mehrheit, rechnerisch ebenso möglich wäre eine Koalition aus SPD, Grünen und »Linken« oder eine aus CDU/CSU, FDP und Grünen.

Da beide Varianten politisch recht unwahrscheinlich sein dürften, bleiben die Regierungspartner wohl für die nächsten zwei Jahre aneinandergekettet, was unterhaltsam werden könnte. Dafür spricht, dass dem Handelsblatt-Redakteur, der eine harmonische Sachverwaltung der Kapitalinteressen wünscht, bei dieser Vorstellung graust: »Wen schaudert es nicht bei der Perspektive, zwei weitere Jahre von Leuten regiert zu werden, die schon jetzt empört versichern, dass sie sich nicht mehr über den Weg trauen? Diese Regierung ist am Ende.«

Was dem Ganzen noch eine gewisse Würze gibt, ist die Tatsache, dass der Streik der GDL, so er denn mit einem für die Gewerkschaft akzeptablen Ergebnis endet, das Ende einer Phase markieren könnte, in der Klassenauseinandersetzungen anscheinend nur noch von der Seite des Kapitals konsequent geführt wurden. Dass ein Streik monatelang Gesprächsthema ist und es offensichtlich für Lohnabhängige doch noch möglich ist, mit kämpferischem Auftreten Druck auf ein großes Unternehmen auszuüben – das könnte ein wichtiges Signal für andere Berufsgruppen sein. Eine grundlegende Änderung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses muss das noch nicht bedeuten, aber vielleicht das Ende der demoralisierenden Serie von Niederlagen für Linke, Gewerkschaften und soziale Bewegungen. Es könnte sein, dass mittelfristig die viel beschworenen französischen Verhältnisse hierzulande näher sind, als man noch vor einigen Monaten dachte.

Ohne den Streik der Lokführer wäre es sicherlich nicht dazu gekommen, dass die Basis der SPD (wenigstens vorläufig) die Privatisierung der Bahn verhindert. Je mehr Druck von der Straße ausgeübt wird, desto turbulenter könnte es in den nächsten zwei Jahren auch in der Regierung zugehen. Am Ende könnte sich die Große Koalition als vorteilhaft für außerparlamentarische Bewegungen erweisen – was für die Linke interessanter und wichtiger wäre als jedes halbwegs realistische Wahlergebnis im Jahr 2009.