Chaos wie bei CNN

Mathare, ein Viertel von Nairobi, ist einer der größten Slums Afrikas. Der Sender Slum-TV will den Alltag im Stadtteil abseits des Elends zeigen. von michael katerla

Wenn die Medien über Mathare berichten, dann heißt es, jeder hier sei drogenabhängig, arbeitslos und Mitglied einer Gang. Sie ignorieren die Wirklichkeit. Es gibt auch ein normales Leben.« Der 22jährige Moses Ouma ist wütend. Zu lange hätten die Bewohner Mathares darauf gewartet, dass auch über andere Dinge als Gewalt und Drogen berichtet wird. »Wir kommen aus Mathare, wir wissen was hier wirklich los ist und wir werden es dem Rest der Welt zeigen«, sagt Ouma selbstbewusst.

Er ist ein Gründungsmitglied von Slum-TV, einem Zusammenschluss von 15 Journalisten aus Mathare. Sie haben sich das Ziel gesetzt, mit der Videokamera und dem Mikrofon das Leben in dem Slum zu dokumentieren. Der Berichterstattung der etablierten Medienunternehmen wollen sie ihre Sicht der Dinge entgegenstellen. Eine alte Garage dient als Redaktionsbüro für Slum-TV. Von außen betrachtet unterscheidet sich dieser Blechverschlag nicht von den Tausenden anderen Hütten in Mathare: verrostete Bleche, die notdürftig zusammengelötet sind, keine Fenster und ein dickes Vorhängeschloss an der Tür. Doch das Innere der kleinen, stickigen Garage sieht erheblich anders aus als das anderer Hütten.

Unzählige Kabel hängen von der Decke, ein Computer befindet sich auf einem kleinen Holztisch, Stative stehen in der Ecke, und überall liegen Videokassetten und DVDs. Mit finanzieller Unterstützung der österreichischen Entwicklungsagentur ADA wurden zwei Rechner und eine digitale Videokamera gekauft, seit Anfang Juni wird gefilmt, geschnitten, vertont und gesendet. Alle zwei Wochen wird Slum-TV auf einem Fußballfeld in Mathare gezeigt, mit der Hilfe von Beamer, Leinwand und Laptop. Hunderte Zuschauer versammeln sich dann, um die neueste Sendung zu verfolgen. Slum-TV ist lokales Fernsehen von Slumbewohnern über Slumbewohner für Slumbewohner.

Moses Ouma und sein Kollege Ali Barisa sind an diesem Samstagmorgen dabei, das Equipment in einem Rucksack zu verstauen. Gemeinsam wollen sie einen Bericht über eine Bibliothek im Norden von Mathare drehen. Fachmännisch überprüfen sie, ob sie genügend Leerkassetten haben, die Akkus für die Kamera geladen sind und das Mikrofonkabel keinen Wackelkontakt hat. Nachdem sie alles eingepackt haben, ziehen sie los. Zielsicher bahnen sie sich ihren Weg durch das Labyrinth aus Blechhütten, durch Dreck und Schlamm. Der Boden ist nach einer durchregneten Nacht aufgeweicht, und Moses und Ali versinken immer wieder knöcheltief im Matsch. Auf den von Müll verschmutzten Gassen drängen sich Menschenmengen, Kinder in zerlumpten Kleidern spielen mit leeren Plastikflaschen, Gemüsehändlerinnen sitzen in Bretterverschlägen, feilschen mit Kunden, betrunkene Männer grölen herum. In den unzähligen Abfallbergen suchen Hunde und Ziegen nach etwas Essbarem. Der Geruch von Kot und Urin ist allgegenwärtig.

Mathare liegt fünf Kilometer nordöstlich des Stadtzentrums von Nairobi. Das Viertel ist einer der größten Slums in Afrika. Über eine halbe Million Menschen leben auf einer Fläche von weniger als zehn Quadratkilometern. Mathare ist gekennzeichnet von Arbeitslosigkeit, unzureichender medizinischer Versorgung und überdurchschnittlich hoher Kriminalität. Staatliche Institutionen ignorieren diese gravierenden Zustände. Öffentliche Krankenhäuser und Schulen gibt es ebenso wenig wie eine funktionierende Wasser- und Stromversorgung.

Einzig für so genannte Strafaktionen schickt die Regierung hin und wieder die Polizei in den Slum. Im Juni gab es einen mehrtägigen Polizeieinsatz gegen die so genannte Mungiki-Sekte, die einflussreichste Gang in Mathare. Mehr als 30 Menschen wurden bei den Kämpfen getötet. Dass dabei auch viele Unschuldige ums Leben kamen, kümmert außerhalb des Viertels kaum jemanden. Die meisten Medien haben die Tatsache auch nicht erwähnt.

Moses Ouma bestreitet die Existenz von Banden, Drogen und Gewalt in Mathare nicht. »Ich weiß, dass es hier Gangs gibt, Dutzende. Ich weiß, dass jeder dritte Erwachsene in Mathare HIV-positiv ist, und ich weiß auch, dass 90 Prozent der Jugendlichen nie auf eine weiterführende Schule gehen werden.« Aber es gebe eben auch noch die andere Seite, und sie dürfe in den Medien nicht permanent ignoriert werden. So sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Selbst­hilfeorganisationen gegründet worden. Nachdem die Bewohner des Slums jahrzehntelang vergeblich auf staatliche Hilfe gewartet hatten, begannen sie, sich selbst zu organisieren und eine eigene Infrastruktur aufzubauen. Mehrere Schulen, zwei Bibliotheken und ein Gemeindezentrum sind durch Eigen­initiative entstanden. Eines der erfolgreichsten kenianischen Fußballteams, Mathare United, kommt aus dem Viertel. »Darüber haben wir aber noch nie etwas in der Zeitung gelesen«, sagt Moses.

Nach einem 20minütigen Fußmarsch haben Moses und Ali ihr Ziel erreicht. Die Bibliothek liegt im Erdgeschoss eines der wenigen Mehrfamilienhäuser in Mathare. In dem kleinen Raum, der mit Büchern überfüllt ist, tummeln sich mehr als 20 Kinder. Ali und Moses beginnen mit ihrer Arbeit. Ali liest sich schnell noch einmal die Fragen für das Interview durch, während Moses die Kinder beim Lesen filmt. Der Bibliotheksleiter Steve Ndolo ist von Slum-TV begeistert. »Ich lebe jetzt schon über 20 Jahre in Mathare. Es hat keinen Zweck, auf staatliche Hilfe zu warten. Wir müssen uns selbst helfen und aktiv werden. Und genau das tut Slum-TV.« Natürlich habe er die bisherigen Sendungen gesehen, und nun freue er sich darüber, dass seine Bibliothek in der nächsten Ausgabe vorgestellt wird.

Schon nach einigen Minuten hat es sich herumgesprochen, dass ein Kamerateam von Slum-TV in der Bücherei filmt. Einige Dutzend Menschen versammeln sich vor dem Haus und schauen interessiert durch das kleine Fenster in den Raum. Ali und Moses lassen sich durch den Andrang nicht aus der Ruhe bringen. Moses baut das Stativ auf, Ali stöpselt das Mikrofon in die Kamera, setzt die Kopfhörer auf und testet den Lautstärkepegel. Dann werden Interviews geführt.

Nach knapp zwei Stunden sind Ali und Moses fertig. Vor der Bibliothek müssen die beiden der interessierten Menschenmenge noch versichern, dass die nächste Sendung von Slum-TV am kommenden Montag ausgestrahlt wird. Ob sie nicht mal einen Bericht über ihren Gemüsestand machen wollten, will eine junge Frau wissen. »Ja, warum nicht?« antwortet Ali und notiert sich die Adresse der Frau. Nun müssten sie aber los, denn es warte noch Arbeit auf sie.

Moses und Ali haben es jetzt eilig. Mit dem Matatu, so heißen die Minitaxis in Kenia, fahren sie zurück zum Büro von Slum-TV. Dort warten schon die Kollegen. Es ist Samstagmittag, und das bedeutet: Redaktionskonferenz. Es geht hektisch zu. In 24 Stunden muss die nächste Sendung fertig sein, denn für Montagabend ist eine Vorführung auf dem Fußballfeld von Mathare angekündigt. Die 15 Mitglieder, sieben Frauen und acht Männer, feilen an ihren Berichten. Es wird getextet, editiert, geschrieben und diskutiert. Der Redaktionsleiter James Njuguna, mit seinen 24 Jahren das älteste Mitglied, schaut dem Treiben mit einer stoischen Ruhe zu. »Das ist hier immer so chaotisch. Vor allem kurz vor Redaktionsschluss. Aber ich glaube, dass das bei CNN genauso ist«, sagt er.

Erneute Proteste von Bewohnern für den Zugang zu sauberem Trinkwasser, ein Fußballturnier für Mädchen in Mathares Süden und Moses und Alis Bericht über die Bibliothek sind die Schwerpunkte der nächsten Sendung. Njuguna blickt zufrieden in die Runde, auch weil er am Vormittag einen Anruf von der kenianischen Fernsehanstalt KTN bekommen hat. Es gebe bei den Verantwortlichen Interesse an einem Bericht über Slum-TV. Moses strahlt und sagt: »Das wäre phantastisch! Dann könnten wir auch den Leuten außerhalb Mathares zeigen, was in unserem Viertel alles passiert.« Bevor es so weit ist, müssen Moses und Ali aber noch eine Nachtschicht einlegen, denn ihre Reportage muss noch geschnitten und vertont werden.

Es ist Abend. Moses sitzt vor dem Computer und beginnt das Material zu schneiden. Ali lehnt an einer Schreibtischplatte und will einen Text für den Bericht verfassen. Sie sind die letzten im Büro. Mit ihren Gedanken sind beide aber noch bei der Fernsehanstalt KTN und deren Interesse an dem kleinen Sender. »Slum-TV kann noch größer werden«, schätzt Moses. »Irgendwann werden wir unsere eigene TV-Station haben, und dann senden wir vielleicht in ganz Kenia«, ergänzt er. Ali schaut vom Bildschirm zu ihm herüber und sagt: »Nicht nur in Kenia, irgendwann senden wir in der ganzen Welt!« Beide lachen laut auf.