Erlebnisorientierte Fahrgäste

Einmal täglich wird in Berlin ein Busfahrer körperlich angegriffen. Die Zahlen sind angestiegen, seit die Fahrscheine wieder vorgezeigt werden müssen. von martin kröger

Ob die Unbekannten den Protestsong »Mensch Meier« von Ton, Steine, Scherben im Sinn hatten, ist nicht bekannt. Falls ja, haben sie nicht verstanden, dass – bei allem Groll, den man gegen Fahrkartenkontrolleure hegen mag – Gewalt gegen Einzelne und die Gefährdung von Arbeitern und Angestellten der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) in dem Lied keine Rolle spielen. Während der Fahrt hatten die zwei Personen zunächst eine Bierflasche gegen die hintere Ausstiegstür geschleudert und dann versucht, den Nachtbus mit Brandbeschleuniger anzuzünden. Anschließend flüchteten sie, hieß es in der Polizeimeldung lapidar.

Der Vorfall im Bus der Nachtlinie Nummer 5 am 20. Juli bildete den Auftakt zu einer ganzen Reihe von Angriffen auf BVG-Busse und ihre Fahrer in den vergangenen drei Wochen. Am Wochen­ende darauf randalierten gleich zwei Mal Jugendgruppen in Omnibussen. In Karow zerstörten acht Personen eine Scheibe in einem Nachtbus. Als die Polizei eintraf, waren die Verdächtigen bereits auf derselben Linie in der Gegenrichtung unterwegs, um dort ihr Zerstörungswerk fortzusetzen. Die Polizisten konnten den Bus einholen und die Jugendlichen, die mit Steinen warfen, festnehmen. Bei dem Angriff wurde der Busfahrer leicht verletzt und musste seinen Dienst beenden. In derselben Nacht, nur wenig später, ereignete sich in Weißensee ein ähnlicher Vorfall, bei dem der Busfahrer versuchte, jugendliche Fahrgäste, die zwei Scheiben eingeschlagen hatten, im Fahrzeug festzuhalten, indem er die Türen verriegelte. Mithilfe der Türnotöffnung gelang den Jugendlichen die Flucht.

An einem Samstagabend, am 4. August, beschädigten zehn Jugendliche in Marzahn einen Bus so stark, dass er stillgelegt werden musste. Nachdem sie pöbelnd durch den Bus gezogen waren, rissen sie Nothämmer aus den Halterungen. Als der Fahrer intervenieren wollte, warfen die Jugendlichen Bierflaschen auf die Scheiben. Einer der Jugendlichen versuchte gar, den Bus zu starten, bevor sie unerkannt flohen.

Doch die Gewalt geht nicht nur von Jugendlichen aus. Am 1. August wurde ein 27 Jahre alter Busfahrer von einem gleichaltrigen Mann mit einem Schlag ins Gesicht verletzt, weil er dessen ungültigen Fahrschein beanstandet hatte. Aus demselben Grund wurde nur eine Woche später ein Busfahrer im Stadtteil Schöneberg bewusstlos geschlagen. An einem anderen Ort attackierte ein Pärchen einen Fahrer, der die beiden nicht mitnehmen wollte, weil sie Döner Kebap aßen und keinen Fahrschein kaufen wollten. Und am Donnerstag voriger Woche griff ein Mann einen Busfahrer am Görlitzer Bahnhof an, schlug und verletzte ihn, weil er nicht mit einem Eis in der Hand hatte einsteigen dürfen.

Zu den direkten Angriffen auf Omnibusse kommen Fälle, die die BVG in der Presse nicht so gerne behandelt sehen möchte, da man befürchtet, es könnten Nachahmungstäter auf den Plan gerufen werden. Zweimal wurden in den vergan­genen Wochen Busse der BVG nicht nur mit Steinen beworfen, sondern auch mit Luft- und Kleinkalibergewehren beschossen. In beiden Fällen wurde niemand verletzt.

Trotz der Dichte der Vorfälle analysiert man bei der BVG nüchtern. »Es hat im ersten Halbjahr allein 90 körperliche Übergriffe gegeben, wovon 74 leichte und 16 schwerer Art waren«, berichtet Pressesprecher Klaus Wazlak. »Schwer« bedeutet im Sprachgebrauch der Verkehrsbetriebe, dass der Fahrer mindestens drei Tage nicht zum Dienst erscheinen konnte.

Dennoch müsse gesehen werden, dass die 4 000 Busfahrer mit ihren Fahrzeugen täglich eine Kilometerzahl zurücklegten, die insgesamt einer Strecke von achtmal um die Welt entspreche. »Da ist ein Übergriff am Tag zwar einer zu viel, aber es gibt auch keinen Grund, alles überzudramatisieren«, sagt Wazlak. Für den Sprecher der BVG ordnen sich die Übergriffe eher in die in der gesamten Gesellschaft angeblich stärker werdende Verrohung und Gewaltbereitschaft ein. »Es sind nicht nur Jugendliche – sowohl Deutsche als welche mit einem Migrationshintergrund –, die Gewalt ausüben, sondern auch Ältere.«

Er muss allerdings einräumen, dass die Zahl der Angriffe insbesondere mit der Wiedereinführung der Vorzeigepflicht von Fahrscheinen im Jahr 2004 rapide angestiegen ist. Wie zuvor nur im Ostteil der Stadt war es seit 1994 üblich gewesen, dass die Fahrgäste bis 20 Uhr sowohl vorne als auch hinten in den Bus einsteigen konnten. Politiker aller Fraktionen hatten die Fahrscheinkon­trolle kritisiert, weil sie nicht mit ihnen abgesprochen worden war. Die BVG erhoffte sich von der Maßnahme geringere Schwarzfahrerzahlen und um Millionen höhere Einnahmen. Ausbaden müssen die Entscheidung des Unternehmens die Fahrer.

Von den knapp 1 400 Bussen, die durch die Stadt fahren, sind bereits 500 mit Videokameras ausgestattet. Da Kameras aber bekanntlich nicht vor Angriffen schützen, unternahm man Versuche mit geschlossenen Fahrerkabinen. »Aufgrund von Spiegelungen in der Frontscheibe, der nach EU-Recht nötigen zusätzlichen linken Fahrertür, die sich in vielen Bussen nicht nachrüsten lässt, und dem Problem, beim Fahrscheinverkauf die Kabine zu öffnen«, sei der Plan verworfen worden, erzählt Wazlak. »Der Stein der Weisen ist noch nicht gefunden«, sagt er.

Bereits seit zehn Jahren schickt die BVG ihre Angestellten zum »Deeskalationstraining«, damit es seltener zu Konflikten kommt und die Fahrer besser gewappnet sind. Das Unternehmen, das die »Antikonflikttrainings« anbietet, kann sich nicht über zu wenig Kundschaft beklagen. Auch die Berliner Stadtreinigung, der Krankenhausbetreiber Vivantes und der Energiekonzern Vattenfall schicken ihre Leute dorthin. Die Müllmänner, Stromableser und Krankenhausangestellten plagen nämlich ähnliche Probleme wie die Busfahrer, auch sie sind immer häufiger körperlichen und verbalen Angriffen ausgesetzt.