Lieber Londongrad als Tschukotka

Der russische Präsident Putin versäumt keine Gelegenheit, dem Ausland politische Stärke zu demonstrieren. Damit verfolgt er auch innenpolitische Ziele. von ute weinmann, moskau

Die Lebenserwartung ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion um acht Jahre gesunken, das Bruttosozialprodukt ist nicht höher als das Italiens, und die Zahl der Einwohner sinkt jedes Jahr um etwa eine Million. Das sind nicht unbedingt Daten, die man von einem Land erwartet, dessen Präsident den Anspruch erhebt, eine Supermacht zu regieren.

Doch es vergeht inzwischen kaum eine Woche ohne Nachrichten über russische Demonstrationen einer neu gewonnenen politischen Stärke. Und genauso häufig finden sich Kommentare, die jeden Schritt und jede Äußerung Wladimir Putins als einen neuerlichen Affront interpretieren. Denn Putin hat immerhin auf zwei Gebieten, die für konkurrierende Staaten potenziell bedrohlich sind, eine Basis für seine Weltmachtpolitik: beim Energieexport und und im militärischen Bereich.

Seine Macht auf dem Gebiet der Energiepolitik demonstriert Putin besonders gerne im Winter, wenn die Europäer sich um ihre warmen Wohnungen sorgen. Ganzjährig dagegen haben Meldungen über die russische Militärpolitik Konjunktur. Am vergangenen Wochenende entschied Putin, den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) auszusetzen. Diese Maßnahme war längst angekündigt und dürfte demnach kaum überraschen, ebenso wie der formale Anlass, nämlich die Weigerung der Nato-Staaten, die 1999 aktualisierte Version des Vertrags zu ratifizieren.

Bedeutende Folgen dürfte Putins Entscheidung nicht haben, denn sowohl Russland als auch die Nato haben die konventionellen Streitkräfte stärker reduziert, als es der Vertrag vorschrieb. Die gewaltigen Panzerarmeen sind überflüssig geworden. Die russische Regierung bekräftigt jedoch ihren Anspruch, Militärbasen in Georgien und Moldawien zu erhalten. Sie waren der Anlass für die Nichtratifizierung durch die Nato.

Doch die neue Bereitschaft zur Konfrontation ist auch eine Frage des Prinzips. In Russland war schon immer ein beachtlicher Teil der politischen Führung chronisch antiamerikanisch. Die neunziger Jahre haben diese Tendenz trotz zeitweiliger Annäherung nicht umgekehrt, sondern eher verstärkt. Die durch den Zerfall der Sowjet­union verursachte Schwächung, der Verlust von Gebieten, die Nationalisten als russisch oder zumindest als russischen Hinterhof betrachten, geo­politische Niederlagen und die Erkenntnis, der Konkurrenz mit den USA womöglich nicht gewachsen zu sein, lassen dies in Ansätzen folgerichtig erscheinen.

Konfliktpotenziale existieren jedoch auch in den Beziehungen zu Europa. Beispielhaft dafür stehen die gespannten russisch-britischen Beziehungen, die genug Potenzial für einen längerfristigen Konflikt in sich bergen. Die britische Staatsanwaltschaft hat erfolglos die Auslieferung des Hauptverdächtigen in der Poloniumaffäre, Andrej Lugowoj, beantragt. Er soll für den Mord an dem im britischen Exil lebenden ehemaligen KGB-Offizier Alexander Litwinenko im vergangenen Herbst verantwortlich sein (Jungle World 50/06) und dafür in Großbritannien vor Gericht gestellt werden. Lugowoj seinerseits beschuldigt den wohl bekanntesten russischen Exilanten und Lieblingsfeind des Kreml, Boris Beresowski, der Tat.

Russlands Regierung gibt sich überaus erstaunt über das britische Interesse. Ein Vertreter des Außenministeriums, Michail Kamynin, erklärte, dass die Auslieferungsverweigerung völlig im Einklang mit der russischen Gesetzgebung stehe. Gemeint ist die Verfassung, deren Artikel 61 die Auslieferung russischer Bürger an andere Staaten untersagt. Großbritannien dürfe schließlich von der russischen Regierung nicht fordern, gegen die eigene Verfassung zu verstoßen. Die britische Regierung interessiert sich nicht für diese juristische Frage. Sie wies in der vorigen Woche vier russische Diplomaten aus, das russische Außenministerium bezeichnete dies als »unmoralisch« und kündigte Gegenmaßnahmen an.

Ein Entgegenkommen ist von keiner Seite zu erwarten, denn im Kern geht es um einen handfesten politischen Widerspruch. Russland trachtet seit geraumer Zeit nach der Auslieferung Beresowskis und des tschetschenischen Exilpolitikers Achmed Zakajew. Großbritannien hat sich indes allein durch seine hartnäckige Absage längst als sicheres Rückzugsgebiet für russische Oligarchen einen Namen gemacht.

Wer aus finanziellen oder politischen Gründen eine langfristige Möglichkeit sucht, dem Putinschen Machtgefüge zu entweichen, landet früher oder später in London. Roman Abramowitsch, reichster russischer Staatsbürger und Gouverneur von Tschukotka, der entlegensten Region des Landes, gilt als Prototyp für das schleichende Abwanderungsbestreben sogar solcher Dollarmillionäre, die gegenüber der Regierung loyal sind. Nur zu gerne hätte Abramowitsch seinen Gouverneursposten abgegeben, aber Putin schlug ihm diese Bitte aus. Denn die Provinz Tschukotka hat so sehr von dem Vermögen des medienscheuen Oligarchen profitiert, dass der Präsident nicht auf seinen Gouverneur verzichten will. Trotz solcher Unstimmigkeiten wird die paternalistische Auszeichnung erfolgreicher Geschäftleute mit politischen Ämtern durchaus als Verwaltungsmodell der Zukunft betrachtet.

Dass die Einrichtung eines zweiten Wohnsitzes in London zu einem Massenphänomen geworden ist, gilt im Kreml fast schon als Provokation, da sie den Millionären zu große Handlungsspielräume gibt. Die Lieblingsstadtteile der russischen Community sind längst als Londongrad bekannt, über 300 000 Russen verfügen bereits über einen legalen Daueraufenthaltsstatus in der Stadt, dazu kommen Schätzungen zufolge noch einmal 200 000 vermögende Pendler sowie Illegale. Dank der Zuwanderung aus Russland stieg im vergangenen Jahr die Nachfrage nach Immobilien im Wert von über einer Million Pfund auf das Doppelte an.

Die Auswanderung aus den unteren Einkommensschichten interessiert hingegen kaum, obwohl sie, zusammen mit der gesunkenen Lebenserwartung und der geringeren Geburtenrate, für einen Bevölkerungsschwund sorgt, der Nationalisten eigentlich beunruhigen müsste. Zwar wurde ein staatliches Programm zur Förderung der Re-Immigration beschlossen, dessen bescheidene Ausstattung und die strenge Reglementierung in Hinblick auf den wählbaren Aufenthaltsort innerhalb Russlands dürften es jedoch zumindest für den Großteil der Auslandsrussen mit festem Einkommen unattraktiv machen.

Die Konfliktbereitschaft gegenüber dem Ausland geht einher mit einer innenpolitischen Umorientierung. Während der Amtszeit von Präsident Boris Jelzin gab Russland vor, es dem demokratischen Westen gleichtun zu wollen, und beanspruchte nur etwas mehr Zeit für den Wandel. Unter Wladimir Putin wichen diese Versuche hingegen immer mehr einer Propaganda, die undemokratische Strukturen schlicht leugnete. Nun tauchen immer mehr Anzeichen antiwestlicher Tendenzen auf, die nach und nach zu einer Doktrin werden.

Die Mitglieder der Präsidialadministration erfinden neue Definitionen für wechselnde Inhalte, allen voran deren stellvertretender Chef Wladislaw Surkow. Aus seiner Feder stammt die Bezeichnung »souveräne Demokratie«, die nun Schritt für Schritt definiert wird. Surkow bot Ende Juni auf einer Konferenz eine Deutung seiner Wortschöpfung, die geeignet sein sollte, den Zusammenhalt des Volkes zu beschwören: »Dies ist eine Erinnerung daran, dass die oberste Macht in der Russischen Föderation dem Volk unterliegt. Erstens, dem Volk in Russland und keinem anderen Land. Zweitens, in Russland unterliegt die Macht nicht einer einzelnen Gruppe von Genossen, ob nun Bürokraten, Oligarchen oder dem bewaffneten Proletariat, sondern sie unterliegt dem gesamten Volk.«

Die Definition ist nicht allzu subtil, doch es könnte Surkow gelingen, dem stellenweise plumpen Nationalismus der vergangenen Jahre einen würdevolleren Ausdruck zu verleihen. Die Frage, was die Nation zusammenhalten soll, muss beantwortet werden. Was hat eine verarmte Rentnerin oder eine Marktverkäuferin mit einem Bankmanager gemein, dessen Einkommen schneller ansteigt als das vielgepriesene Wirtschaftwachstum?

Soziale Ungleichheit gibt es auch anderswo, es gab sie auch in der Sowjetunion, doch sie ist seit deren Zusammenbruch immens gewachsen, und die Mehrheit profitiert nicht vom Wirtschaftswachstum. Ihr wird nun von der Größe Russlands erzählt, das von Feinden umzingelt ist, jedoch von Putin im Ausland selbstbewusst vertreten wird, und von unpatriotischen Oligarchen, die lieber in London im Luxus schwelgen und intrigieren, als dem Vaterland und seinem Präsidenten zu dienen.