Die Vettern im Sessel

Mit Geldüberweisungen will Israel Präsident Abbas stärken. Doch die Fatah-Politiker bleiben unbeliebt. von michael borgstede, ramallah

Für die Menschen in Gaza war es fast ein Grund zum Feiern, dass sich in der vergangenen Woche vor ihren Banken schier endlose Schlangen bildeten. Bisher hatten die Banken nämlich nichts zu verteilen gehabt. Doch nachdem die Autonomiebehörde ihren Beschäftigten erstmals seit 17 Monaten das volle Gehalt überweisen konnte, strömten sie alle an die Schalter. »Wer weiß, wie lange das Geld noch reicht?« fragt sich Bassam Khatabi, ein Angestellter im Innenministerium. »Ich hole mir meine Schekel jedenfalls lieber jetzt ab«. Umgerechnet rund 230 Euro bekommt er offiziell im Monat, im vergangenen Jahr war es manchmal die Hälfte. »In einigen Monaten bekamen wir auch überhaupt kein Geld, dann lebte die ganze Familie von den Ersparnissen meiner Eltern«.

Verantwortlich für den plötzlichen Geldsegen ist ausgerechnet die Machtergreifung der Hamas im Gazastreifen. Nachdem Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas den Regierungschef der Hamas, Ismail Haniya, entlassen und den international anerkannten Finanzfachmann Salam Fayad zum Premierminister einer Notstandsregierung gemacht hatte, war der Weg frei für die Wiederaufnahme der Finanzhilfen.

Israel hat der Notstandsregierung bereits die ersten 120 Millionen Dollar der Steuergelder überwiesen, die sie für die Autonomiebehörde einsammelt. Seit dem Wahlsieg der Hamas im Januar 2006 hatte Israel sich geweigert, die Gelder an eine Regierung weiterzuleiten, die das Existenzrecht des jüdischen Staates nicht akzeptiert. Die Zahlungen sind Teil einer Strategie, die der Fatah von Präsident Abbas langfristig wieder zu mehr Sympathien in der Bevölkerung verhelfen soll.

Der palästinensischen Bevölkerung müsse klar werden, dass es sich unter der Fatah besser lebt als unter einer Hamas-Regierung, heißt es in Jerusalem, und die »internationale Gemeinschaft« scheint dieser Sichtweise ebenfalls zuzuneigen. Man wolle keine humanitäre Katastrophe in Gaza provozieren, doch die Lebensumstände dürften sich eben nicht ausgerechnet nach der Machtergreifung der Hamas verbessern. Das würde die Fatah bei Neuwahlen in Schwierigkeiten bringen.

Denn dass früher oder später in den palästinensischen Gebieten wieder gewählt werden wird, daran zweifelt keiner. Auf die Frage, ob er daran glaube, dass die Hamas freie Wahlen zulassen wird, antwortet ein palästinensischer Journalist ganz bestimmt: »Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben. Spätestens seit den letzten Wahlen sind wir eine funktionierende Demokratie, und das wird das palästinensische Volk sich auch nicht mehr nehmen lassen.«

Auch viele in Gaza lebende Palästinenser haben jahrzehntelang täglich in Israel gearbeitet und dort einiges über Demokratie und individuelle Freiheiten aufgeschnappt. Wohl darum üben sich die Führer der Hamas derzeit in rhetorischer Mäßigung, sie wollen nicht ihren Rückhalt verspielen. Denn auch die Hamas weiß sehr wohl, dass die meisten Palästinenser zwar religiös und traditionell orientiert sind, sich jedoch für einen von der Sharia-Gesetzgebung geregelten islamistischen Staat nicht begeistern können.

Dennoch waren die Zeichen einer schleichenden »Islamisierung« in Gaza schon vor der Machtübernahme der Hamas nicht zu übersehen. Kaum eine Frau traut sich mehr unverschleiert auf die Straße. Wer es trotzdem wagt, muss damit rechnen, beschimpft oder bedroht zu werden. In einigen Fällen wurde Frauen von islamischen Eiferern gar Säure ins Gesicht geschleudert. Die Kinos in Gaza mussten schließen, und selbst der harmlose Familienspaziergang am Donnerstagabend über die Omar-al-Muchtar-Straße in Gaza-Stadt kann zu Problemen mit den selbsternannten Moralhütern führen, die überall »unislamisches Verhalten« wittern.

Hinzu kam in jüngster Zeit eine Häufung von Angriffen auf Internetcafes, einen Buchladen der christlichen Minderheit, Mobiltelefonläden oder auch Lokalitäten, in denen Männer und Frauen nur beieinandersitzen. Es ist nicht die Hamas, die hinter den Angriffen steckt. Die Bekennerschreiben sind unterzeichnet von Gruppen mit so klangvollen Namen wie »Die Brigaden der Einheit Gottes und des Heiligen Krieges«, »Die Löwen der Einheit« oder »Die Schwerter der Wahrheit«. Die Idole dieser wütenden jungen Männer sind Ussama bin Laden oder der im Irak getötete Terroristenführer Abu Musab al-Zarqawi.

Nicht nur der israelische Geheimdienst vermutet, der Iran könne bei der Unterstützung dieser Gruppen seine Hand im Spiel haben. Auch die unabhängige kuwaitische Zeitung al-Siyassah glaubt ausländische Mächte hinter dem Aufruhr in Gaza und meint damit ausnahmsweise einmal nicht die Vereinigten Staaten und Israel. In Gaza fände eine Revolution reaktionärer Kräfte mit Unterstützung aus Teheran und Damaskus statt, meint das Blatt. »Das Ziel ist es, die staatliche Autorität zu untergraben und einen islamischen Gottesstaat zu errichten, der über al-Qaida-Aktivisten in Palästina einen Außenposten Irans und Syriens darstellt.« Ein islamischer Gottesstaat ist zwar auch das erklärte Ziel der Hamas, doch geht die Organisation bei der Verwirklichung dieses Ziel vorsichtiger vor.

Die Hamas, ursprünglich ein Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft, hat ihre Beliebtheit nämlich nicht nur einer neuen Welle der Religiosität zu verdanken, sondern ebenso der Tatsache, dass sie sich seit Jahren als Gegenpol zur von der Fatah dominierten Autonomiebehörde dargestellt hat. Nach der Rückkehr der Fatah-Führung aus dem Exil Anfang der neunziger Jahre herrschten bald Korruption und Vetternwirtschaft. Während Yassir Arafat und seine Vertrauten sich bereicherten und den palästinensischen Staat noch vor der Gründung in die Krise stürzten, betrieb die Hamas Suppenküchen, Kindergärten und Schulen. Sogar die Freilassung des monatelang entführten BBC-Journalisten Alan Johnston konnten die neuen Machthaber herbeiführen, im Gegensatz zum immer hilfloser auftretenden Abbas.

Es ist deshalb durchaus nicht sicher, dass die Fatah bei den nächsten Wahlen wieder triumphieren wird – trotz der Versuche, Abbas mit Finanzhilfen, der Freilassung von Gefangenen und anderen Zugeständnissen den Rücken zu stärken.

Wer sich in den vergangenen Wochen im Grand Park Hotel in Ramallah umhörte, musste feststellen, dass die aus Gaza geflohenen Funktionäre der Fatah nichts gelernt haben und sich vor allem selbst bemitleiden. In den bunten Plüschsesseln der Lobby empfangen sie nun Journalisten, rauchen und diskutieren ununterbrochen die jüngsten Entwicklungen. Sie schwanken zwischen Wut und Trauer, Hoffnung und Enttäuschung – nur Selbstkritik, die sucht man vergeblich.

»Die Welt und Israel müssen Gaza einfach aushungern, dann werden sie schon angekrochen kommen«, meint Ahmad Tashtani, ein ehemaliger Offizier der Präsidentengarde von Mahmoud Abbas. Israel müsse jetzt die Strom- und Wasserversorgung einstellen und dürfe kein Benzin mehr nach Gaza liefern, fordert er. Ein ergrauter Fatah-Politiker im schlabberigen Trainingsanzug weist ihn zurecht: »Liest du keine Zeitung? Die Israelis werden denen gar nichts abschalten, weil sie keine Katastrophe verursachen wollen.« Außerdem sei es sowieso zu spät: »Gaza haben wir verloren. Und Schuld sind Abbas und Dahlan«.

Der Fatah-Veteran ist nicht der einzige, der dem Palästinenserpräsidenten und seinem Vertrauten in Gaza, Mohammed Dahlan, die Schuld an der Niederlage in Gaza gibt. »Abbas hätte viel früher eingreifen müssen. Erst am letzten Tag haben wir den Befehl bekommen, mit aller Gewalt zurückzuschlagen«, sagt der Offizier Tashtani. Außerdem wären alle hochrangigen Führer wie Dahlan bereits vorher ins Ausland geflohen. »Das war für die Kampfmoral natürlich eine Katastrophe«.

Das laute Kreischen spielender Kinder schrillt durch die Lobby und unterbricht Tashtani. »Die Hamas, das sind gar keine Palästinenser mehr«, sagt er dann, und es klingt sehr verbittert. »Sie haben alles zerstört, was wir aufgebaut haben«. So bleiben sich die Fatah-Leute treu: Schuld sind immer die anderen. Es war wohl nicht zuletzt diese Unfähigkeit zu Selbstkritik und Reformen, die die Fatah im Januar 2006 den Wahlsieg gekostet hat. Fast eineinhalb Jahre später stehen noch immer dieselben korrupten Führer an der Spitze der Bewegung.

Auf den Straßen von Ramallah hält sich das Mitleid für die aus Gaza geflüchteten Funktionäre deshalb in Grenzen. »Ehrlich gesagt haben sie es nicht anders verdient«, sagt ein Taxifahrer, der seinen Namen lieber nicht nennen möchte. »Jetzt sitzen sie im besten Hotel der Stadt und jammern, weil sie ihren Reichtum zurücklassen mussten. Dabei hatten sie doch alles vom Volk gestohlen«. Er habe bei den Wahlen auch Hamas gewählt, weil die Fatah-Politiker immer reicher wurden und sich für die normalen Palästinenser nichts zum Besseren veränderte. Wen er beim nächsten Mal wählen wolle, weiß er noch nicht. »Vielleicht wähle ich auch gar nicht und wandere nach Amerika aus, das wäre wohl das Beste. Für Palästina habe ich nicht viel Hoffnung.«