Theorien der Enterbten

Drei Jahre nach den islamistischen Terroranschlägen in Madrid blühen in Spanien die Verschwörungstheorien. Konservative behaupten weiterhin, die Eta stecke dahinter. von thorsten mense

Drei Jahre ist es her, dass in den frühen Morgenstunden des 11. März in vier Nahverkehrszügen insgesamt zehn Bomben explodierten, die 191 Menschen in den Tod rissen. Die Anschläge in Madrid richteten sich gegen die damalige rechts-konservative Regierung von Ministerpräsident José María Aznar unter anderem wegen der spanischen Beteiligung am Irak-Krieg. Getötet haben die Bomben vor allem Angestellte und Arbeiter, darunter viele Migranten. Mehr als ein Viertel der Opfer besaß nicht die spanische Nationalität, vor allem osteuropäische Arbeiter waren betroffen.

Mit dem Anschlag hatte der islamistische Terror zum ersten Mal Europa erreicht, und damit kamen auch die Verunsicherung und die Angst. Denn durch das Massaker wurde deutlich, dass, im Gegensatz zum Vorgehen der baskischen Guerilla Eta oder der linksradikalen Grapo bei ihren Anschlägen, jeder Mensch, unabhängig vom sozialen Status, der Position, der Herkunft und des Glaubens, ein potenzielles Ziel für die Islamisten darstellt.

Von Beginn an waren die Anschläge und die Diskussion darüber ein Politikum. Gleichzeitig wurde das Datum – 11M – zum nationalen Mythos. Um die Ursachen, die Täter und die Opfer ging es von Anfang an nur in zweiter Linie.

Seit Mitte Februar müssen sich 29 Angeklagte vor dem obersten Gerichtshof in Madrid verantworten (Jungle World 08/07). Damit ist auch der politische Streit wieder entfacht. In den Medien ist von einem »Parallelprozess« die Rede, der außerhalb des Gerichtssaals stattfinde. Denn die Vertreter des Partido Popular (PP; Volkspartei) halten weiterhin an der These fest, die Eta stünde in Verbindung mit den Anschlägen, obwohl im Untersuchungsbericht eindeutig festgestellt wurde, dass es »keinerlei Verbindung oder Kontakt« zwischen den baskischen und den islamistischen Terroristen gegeben hat. Die bisherigen Aussagen der Angeklagten bestätigen dies. Ungeachtet dessen antwortete der Vorsitzende des PP Mariano Rajoy kurz vor Prozessbeginn auf die Frage, ob seiner Meinung nach die Eta hinter den Anschlägen stecke, dass es nicht »genügend Informationen« gebe, um »eine Aussage darüber zu treffen«.

Die Regierung hatte vor drei Jahren, noch am Tag der Anschläge, die Eta als Urheber des Attentats ausgemacht, obwohl alle Indizien dagegen sprachen. So entwickelten sich die Trauerdemons­trationen der folgenden Tage schnell zu Protestkundgebungen gegen die Regierung. Drei Tage nach den Anschlägen wurde der PP abgewählt. Die bewusste Fehlinformation war einer der Gründe hierfür, viele sahen aber auch eine Mitschuld des PP an dem Anschlag, da die Regierung entgegen der mehrheitlichen Ablehnung der Bevölkerung am Irak-Krieg teilgenommen hatte. Die Toten von Madrid sicherten dem sozialdemokratischen Kandidaten José Luis Rodríguez Zapatero den Wahlsieg, der dann auch einen Monat später den Rückzug der spanischen Truppen aus dem Irak ankündigte.

Auch die Präsidentin des rechts-konservativen Opferverbandes »Hilfe für die Opfer des 11-M«, Angeles Domínguez, will weiterhin nicht von der Eta-These lassen. »Die Regierung hat ein Interesse daran, dass die Eta im Prozess nicht auftaucht, weil sie mit ihr verhandelt«, sagte sie vergangene Woche. Für sie sind die derzeitigen Angeklagten nur »Sündenböcke«. Auch der größte spanische Opferverband AVT glaubt nicht an einen islamistischen Hintergrund. Die Organisation will alle Opfer jeglicher terroristischer Anschläge vertreten und macht dabei keine Unterschiede zwischen Tätern und Opfern. Die 191 Toten von Madrid werden einfach in die Liste der Eta-Opfer eingereiht. So stehen etwa ehemalige Funktionäre der faschistischen Falange neben den getöteten Migranten.

Die Vereinigung steht dem PP nahe und lässt daher auch keine Gelegenheit aus, die »Einheit Spaniens« zu fordern. Ihre Demonstrationen richten sich in der Regel gegen jegliche Verhandlungen mit der Eta und vor allem gegen die sozialdemokratische Regierung. Dementsprechend sieht sie, wie auch der PP, hinter dem 11. März eine linke Verschwörung: Die Eta soll die Regierungspartei Psoe ins Parlament gebombt haben, um danach mit ihr in Verhandlungen treten zu können.

Einzig Pilar Manjón von der »Vereinigung 11M«, der dritten Organisation, die im aktuellen Prozess im Namen der Opfer als Nebenklägerin auftritt, lehnt diese politischen Spiele ab: »Ich will keine Regierung stürzen, und wer einen Sitz im Parlament haben will, soll sich bei den Wahlen aufstellen lassen und nicht Posten in Opferverbänden dafür benutzen.« Sie werde nicht an Demonstrationen teilnehmen, auf denen gerufen wird: »Zapatero, geh zu deinem Opa!« Zapateros Großvater war kurz nach dem Putsch 1936 von Francos Schergen erschossen worden.

Manjóns Kritik gilt aber auch den Verantwortlichen in der Politik. Ihrer Meinung nach fehlen auf der Anklagebank diejenigen, »die politische Entscheidungen getroffen haben«, sie bezog sich damit auf die von der Aznar-Regierung ignorierten Hinweise auf einen islamistischen Anschlag. Sie hat derzeit einen schweren Stand. Im Gerichtssaal muss sie den mutmaßlichen Mördern ihres Sohnes gegenüber sitzen, zugleich versucht sie, die politischen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei muss sie gegen die Verbände kämpfen, die im Namen der Opfer Politik für die Volkspartei PP betreiben.

Eine der wenigen Personen, die ihr in diesem Kampf beistehen, ist Robert Manrique von der katalanischen Opfervereinigung ACVOT. Er war lange Zeit im Opferverband AVT aktiv, bis dieser anfing, Politik zu betreiben »und nicht mehr von den Opfern zu reden«. Er erzählt, dass die AVT sogar Briefe an ihre Mitglieder verschickt habe, in denen sie nach ihrer Meinung über die politischen Parteien befragt wurden. Aber auch er meint, die Opfer würden von der Politik im Stich gelassen. »Es gibt Sektoren in der Verwaltung, die ohne die geringste Menschlichkeit mit den Opfern umgehen.« Die Bürokratie sei weiterhin »zutiefst unmenschlich«, da die Opfer beweisen müssten, tatsächlich Opfer zu sein.

Durch die gegenseitigen Beschuldigungen und politischen Machtkämpfe geraten die eigentliche Tat und ihre Ursachen in den Hintergrund. Linke Aktivisten interessieren sich wenig für den Prozess oder sehen ebenfalls eine politische Verschwörung hinter den Anschlägen. In dem großen linken Internetportal Kaos­enlared streiten sich die Leser derzeit darüber, ob der 11. März eine »geheime militärische Operation der Anti-Terroreinheit der Nato« oder – »wie in London« – eine Rache der CIA für die Antikriegsproteste gewesen sei.

Selbst Angehörige von Opfern haben zum Teil erstaunlich viel Verständnis für die Bombenleger. Der Bruder eines Getöteten führt derzeit im Auftrag der linksliberalen Tageszeitung El Periódico ein Tagebuch für die Dauer des Prozesses. »Als wir ›Nein zum Krieg‹ gerufen haben, wollten wir die Leben retten, in deren Namen sie uns getötet haben«, schrieb er vergangene Woche. Für ihn war die Tat die Rache für »den Tod von Irakern, Iranern, Palästinensern und die Unterdrückung durch die westliche Welt«.

Manjón kann dieses Verständnis nicht teilen. Für sie sind die angeklagten Islamisten die Mörder ihres Sohnes. Am ersten Prozesstag sagte sie gegenüber der Tageszeitung ABC: »Sie sollen sich an mein Gesicht erinnern, denn ich werde ihr schlimmster Alptraum sein.«